Misstöne vor dem OSZE-Gipfel

■  Jelzin will in Istanbul den Tschetschenien-Feldzug verteidigen. Doch die OSZE verlangt einen Zeitplan für den Abzug der russischen Truppen aus der Kaukasus-Republik

Moskau/Oslo (AFP) – Wenige Tage vor Beginn des OSZE-Gipfels in Istanbul zeichnet sich ein offener Konflikt zwischen Moskau und dem Westen über den Tschetschenien-Krieg ab. Russlands Präsident Boris Jelzin verwahrte sich gestern scharf gegen Kritik an Russlands Offensive in der abtrünnigen Kaukasus-Republik. Die OSZE will Russland dazu auffordern, einen genauen Zeitplan für den Rückzug der Moskauer Truppen aus Tschetschenien vorzulegen. Auch die EU-Außenminister verurteilten gestern die „unverhältnismäßige“ Gewaltanwendung in Tschetschenien.

Der Westen habe kein Recht Russland anzuprangern, weil es „Banditen, Mörder und Terroristen auf seinem Gebiet bekämpft“, sagte Jelzin laut der Agentur Itar-Tass am ersten Tag im Kreml. Moskau werde weiter Krieg führen, solange es „noch Terroristen auf unserem Territorium gibt“, unterstrich Jelzin. Der Präsident kündigte zugleich seine Teilnahme an dem Gipfel am Donnerstag und Freitag in Istanbul an. Er wird dort unter anderem US-Präsident Bill Clinton und Bundeskanzler Gerhard Schröder treffen.

Der amtierende OSZE-Vorsitzende Vollebaek hingegen bekräftigte, dass „Russland in Istanbul einen detaillierten Zeitplan für den Abzug vorlegen“ muss. Zwar habe Russland das legitime Recht, gegen die Terroristen zu kämpfen, aber der übertriebene Einsatz von Gewalt sei „unvernünftig, unbillig und unpassend“, sagte Vollebaek gestern in Oslo. Der Westen verdeutlichte bereits im Vorfeld des Gipfels, dass der Kaukasus im Zentrum der Gespräche stehen werde.

Bei ihrem Ratstreffen in Brüssel kritisierten die EU-Außenminister gestern, der Einsatz der russischen Gewalt in Tschetschenien treffe vor allem die Zivilbevölkerung und Flüchtlinge. Die Regierung in Moskau wurde aufgefordert, Opfer unter der Zivilbevölkerung zu verhindern und die Grenzen geöffnet zu lassen, damit sich die Flüchtlinge in Sicherheit bringen können. Sie verlangten zudem erneut einen Dialog zwischen Russland und der gewählten tschetschenischen Regierung, um eine politische Lösung der Krise zu finden. In dem zehnwöchigen Konflikt sind rund 4.000 Zivilisten getötet worden, Tausende Menschen flohen aus ihrer Heimat.

Die russische Armee setzte unterdessen ihre Angriffe in Tschetschenien fort. Nach Angaben der russischen Militäragentur AWN nahmen Soldaten die beiden Dörfer Assinowskaja und Sernowodsk westlich der Hauptstadt Grosny ein und zerstörten acht Stellungen tschetschenischer Kämpfer im Westen, Osten, Südosten und Süden des Landes. Auch Grosny war gestern morgen wieder Ziel heftiger Artillerie-Angriffe. Die Bewohner der Stadt hatten bereits die Nacht in ihren Kellern verbracht. Nach russischen Angaben zog die Armee am Montag ihren Belagerungsring um Grosny vom Süden aus enger.