Die verkleinerten Lords

■  Wenn die Queen heute vor beiden Parlamentskammern das Regierungsprogramm verliest, sind viele Adelige nicht mehr dabei

Für Großbritanniens radikale Modernisierer wird ein alter Traum wahr: Im Oberhaus dominiert nicht mehr der Erbadel

Alles wird so sein wie immer – dem Anschein nach. Die Königin wird ins Parlamentsgebäude prozessieren und auf ihrem Thron vor den festlich gekleideten Lords Platz nehmen. Dann wird sie unter großem Pomp vor sitzenden Lords und stehenden Gemeinen Abgeordneten (Commons) das legislative Programm der Regierung für das nächste Jahr vorstellen. Und doch: Heute Vormittag, wenn diese Szene sich wie jedes Jahr am dritten Mittwoch im November wiederholt, wird etwas anders sein. Zum ersten Mal seit dem Mittelalter dominiert im Oberhaus nicht mehr der Erbadel.

Die Labour-Regierung hat fast alle Barone, Grafen und Herzöge per Gesetz aus dem Parlament entfernt. Für Großbritanniens radikale Modernisierer wird ein alter Traum wahr. „Diese Regierung hat geschafft, was Regierungen seit 1911 versucht haben“, jubelte pflichtgemäß die Labour-Fraktionsführerin im Oberhaus, Baronin Jay, am vergangenen Donnerstag. „Das Geburtsrecht gibt kein automatisches Recht auf einen Parlamentssitz mehr.“

Das Klischee täuscht allerdings: Das britische Oberhaus ist keine reaktionäre Gruftie-Veranstaltung, sondern ein klassischer Gentlemen-Club – ein Hort der Höflichkeit und Ernsthaftigkeit in einem politischen System, das gerade unter Tony Blair Parteiloyalität höher schätzt als Sachkenntnis. Die Lords können Gesetze, die das gewählte Unterhaus passiert haben, zwar nicht völlig kippen, aber zwecks Nachbesserung zurückschicken. Damit verhindern sie Exzesse, Zweideutigkeiten und Fehler. Debatten im Oberhaus gelten als geruhsamer, detaillierter und weniger polarisiert als im Unterhaus. Die ernannten Mitglieder sind oft Experten auf ihrem Gebiet. Die Erbadeligen kommen meist nicht aus der Millionärsschicht, sondern mitten aus dem Leben und sind politisch ungebunden, weil sie ihr Mandat keiner Partei verdanken. Die Mitgliedschaft im House of Lords ist ehrenamtlich, und entgegen der Legende gibt es schon lange keine konservative Mehrheit mehr – die Tories stellen lediglich die größte Fraktion, und meist geben die vielen Fraktionslosen den Ausschlag.

Eigentlich wollte Labour den Erbadel ganz hinauswerfen. Dann wären nur ernannte Mitglieder geblieben. Unter dem Eindruck der Kritik, Blair wolle das House of Lords einfach unter seine Fuchtel bringen, entstand letztes Jahr ein Kompromiss: 75 Erbadelige, von ihren bisherigen Kollegen gewählt, können vorerst bleiben. Im Gegenzug blockiert die konservative Opposition die Reform nicht. Aus den 75 wurden dann 104, davon 90 Gewählte.

Die Art und Weise, wie die Verkleinerung des Erbadels vonstatten ging, hat viele Gemüter erregt. Es hat keinen Akt des feierlichen Ausscheidens aus dem Parlament gegeben. Die 653, die ihr Mandat verloren, bekamen lediglich eine schriftliche Aufforderung, bis zum vergangenen Wochenende ihre Schreibtische zu räumen.

Sie rächten sich auf ihre Weise. Als die Adeligen am 5. November per Abstimmung die 90 Verbleibenden bestimmten, wählten sie keine Parteisoldaten, sondern unerschrockene Einzelkämpfer. An erster Stelle bei den 15 stellvertretenden Sprechern kam die Gräfin Mar, Inhaberin des ältesten erblichen Mandats, das auf das Jahr 1114 zurückgeht. Sie ist eine fraktionslose, grün angehauchte Farmerin, die sich mit Kampagnen gegen Chemie in der Landwirtschaft und für die Aufklärung des Golfkriegssyndroms einen Namen gemacht hat. „Diejenigen, die bleiben, sind oft Leute, die sich stark engagiert haben“, bestätigt Graf Ferrers, ebenfalls erhalten gebliebener Erbadel und Mitglied der Tory-Fraktionsführung. Er freut sich diebisch über den Deal zum Verbleib einiger Erbadeliger.

Einer der wenigen verbleibenden Labour-Erbadeligen, Baron Rea, ist denn auch „gar nicht besonders stolz“. Der teilweise Verbleib des Erbadels sei „ein bisschen komisch“, findet er und gibt zu, dass das der Regierung aufgezwungen wurde: „Die Lords hätten sonst die ganze Gesetzgebung durcheinander bringen können.“ Das neue Oberhaus wird also Überraschungen bieten. Es sollte jünger, moderner und angepasster werden – und es wird wohl das Gegenteil. Da die meisten Erbadeligen bei Amtsantritt relativ jung sind, die ernannten Lords jedoch alt, steigt mit der Reform das Durchschnittsalter des Hauses abrupt von knapp 66 Jahre auf über 70. Und, wie Ferrers ankündigt: „Das Oberhaus wird stärker, denn die Dominanz des Erbadels war eine seiner Schwächen. Jetzt können wir tun, wofür wir hierhergeschickt wurden.“ Mit anderen Worten: Opposition. Die Konservativen planen, mehr als früher Regierungsentscheidungen niederer Art zu kippen.

Man soll schlafende Hunde nicht wecken, war früher eine Maxime des britischen Establishments. Jetzt sind die Lords brachial aus ihrer Gemütlichkeit geweckt worden. Der Stil wird härter in der britischen Politik. Dominic Johnson, London