Normalzeit
: Die Trommel rühren

■ Von Helmut Höge

Einerseits hat sich die Kunst musikalisch und als Performance mehr und mehr dem Schamanismus zugewandt, andererseits haben die wieder auferstandenen neuen Schamanen vor allem von Kunst und Kommerz gelernt. Im Anschluss an das „Festival Traditioneller Musik/Urban und Aboriginal XIII: Polar“ schrieb der FR-Rezensent: Der Schamanismus konnte dank „hoher Wandlungsfähigkeit“ überleben.

Das ist ebenso wurzelkitschig gedacht wie seine „Warnung“ vor Kommerzialisierung – im Zusammenhang der perfekten Vortragskunst von Sainkho Namtschylak, einer am Moskauer Jazz geschulten Schamanensängerin aus Tuwa. Schon in den Sechzigerjahren machte man in Ungarn die Erfahrung, dass zur Sesshaftigkeit gezwungene Zigeuner keine Musik mehr machen. Sie war aber für den Tourismus notwendig, deswegen eröffnete man eine Musikschule – nach Noten.

So muss man sich auch die „Neugeburt“ des Schamanismus vorstellen: Im sibirischen Burjatien lehrte zum Beispiel die derzeit in Berlin ihre Doktorarbeit über russische Emigranten schreibende Ethnologin Tsypylma Dariewa ihre Landsleute an der Universität von Ulan-Ude „Schamanismus“.

Und am Wannsee ist ein Mongole in derselben Angelegenheit tätig. Den Wannseern sind seine „Schama-Sessions“ inzwischen derart wichtig, dass er davon leben kann.

Ende Oktober traten im Haus der Kulturen der Welt Schamanen aus Kamtschatka auf. Sie tanzten, sangen, stellten Jagd-Szenen dar und dialogisierten mit ihrer „Babuschka“ (Kamtschatka). Äußerst gelungen fand ich den „Möventanz“ – inklusive der Schreie – von drei Frauen. Er wurde von einem rührenden „Robbenpärchen“ flankiert. Auch das „Robbenspiel“ verdiente alle Achtung.

Am besten gefiel mir jedoch ihr aller Impressario, ein schnurrbärtiger Russe in grauem Sakko und blauer Krawatte, der am rechten Bühnenrand die Trommel schlug oder am linken die Aufführung mit seinem Akkordeon begleitete. Er war so dermaßen bei der Sache, dass ich mir sicher war, er hat nach der Wende – vielleicht als abgewickelter Kamtschatka-Anthropologe – das „Tanztheater“ aufgebaut, hat sich um Vorlagen für die – sehr schönen – Kostüme bemüht, bei der Regionalregierung das Geld für die Schneiderkosten rausgeleiert, Auftritte organisiert, sich um die Presse gekümmert ... Und nun tritt seine zehnköpfige Truppe bereits im Ausland – in Berlin – auf.

Sie sind in einem guten Hotel untergebracht, es gibt einen Shuttle-Service zum Haus der Kulturen der Welt, es gibt Dolmetscher, Übungsräume, Lachen, Trinken, im Café Global beim netten Kurden Rumsitzen, es gibt die baumlange Pressesprecherin des Hauses, Anna Jacobi, die sich ebenfalls sehr bemüht ...

Alles ist gut! Die Zukunft liegt wie ein satter Silberstreif am Horizont. Darauf trinken wir noch einen! Und – warum eigentlich nicht – noch einen.

All das sah ich in ihrem „Liebestanz: Morgendämmerung“ zum Beispiel aufscheinen. Und vor so viel Glück traten mir Tränen in die Augen. Neben mir im Zuschauergang saß eine schöne Frau im Rollstuhl: ihr ging es ebenso. Anschließend schlich ich mich aus der Kongresshalle ins Dunkle und begann – zuerst im Café Einstein dann im Dressler Unter den Linden und zuletzt im Torpedokäfer sowie im Luxus am Wasserturm – mich zügig zu betrinken. Wieder und wieder trank ich auf das Wohl des internationalen Schamanismus. Und mir selbst wurde immer wohler dabei zumute.

Allein, die Umstehenden konnten oder wollten mich nicht verstehen. Ich schwärmte von der Wodkazeremonie in den lamaistischen Klöstern Burjatiens und von den vielen Soju-Tents in Seoul und Pusan, die von den dortigen Nachtschwärmern mit schon fast religiöser Inbrunst aufgesucht werden ... Ja, der Schamanismus ist eine feine Sache, braucht aber viel Überzeugungskraft.