Berliner Simulation

Die einstige Volksmusik des osteuropäischen Judentums boomt seit einigen Jahren: Partyvergnügen, Versöhnungsangebot und Faszinosum. Über die posthume Karriere der Klezmer-Musik in Deutschland oder Wie die Deutschen lernten, die Klarinette zu lieben  ■   Von Daniel Bax

In den letzten zehn Jahren ist in Mitte, dem alten und neuen Regierungsbezirk der alten und neuen Hauptstadt, rund um die aus dem Stadtbild ragende Synagoge in der Oranienburger Straße so etwas wie ein jüdisches Viertel entstanden. Restaurants und Cafés mit koscherer Speisekarte, Bagel-Imbisse und Buchhandlungen, spezialisiert auf Judaica – in der zentral gelegenen Gegend pulsiert wieder jüdisches Leben. Allerdings weitgehend ohne Juden, was dem Ambiente ein wenig den Kulissen-Charakter eines potemkinschen Dorfs verleiht. Dafür aber mit um so mehr Touristen. Berliner Simulation.

In den eleganten Hackeschen Höfen, aufwendig restauriert und effektvoll erleuchtet, waren einst Manufakturbetriebe zu Hause. Einfache Leute lebten früher hier, wo heute teure Restaurants, Galerien und Theaterbühnen residieren. Eine davon wirbt auf einer Tafel mit „jiddischer Musik am historischen Ort“. Hier wird Klezmer gespielt, die durch den Genozid der Nazis ihrer Grundlagen beraubte Volksmusik des osteuropäischen Judentums. Neue Klezmer-Kapellen geben sich im „Hackeschen Hof-Theater“ die Klinke in die Hand. Sie heißen „Forszpil“, „Aufwind“ oder „Kasbek“, und sie teilen ein auffälliges Merkmal: Jüdische Mitglieder haben sie meist keine. Aber das tut ihrer Attraktivität als Abendunterhaltung für kulturbeflissene Berlinbesucher kaum einen Abbruch.

Hier tritt auch die „Grine Kusine“ gelegentlich auf. Vor dem bürgerlich-alternativen Publikum auf den Klappsitzen der Kleinkunstbühne präsentiert sich die Band in schwarzen Anzügen und weißen Hemden, die Sängerin im hellen Kleid, scharf konturiert vor dem dunklen Hintergrund. Flott und versiert prescht die Gruppe durch ihr Repertoire aus mazedonischen Liedern, bulgarischen Tänzen und Klezmer-Weisen, gerüstet mit drei Bläsern, Akkordeon und Schlagzeug. Mit burschikosem Charme führt die Sängerin Alexandra Dimitroff durch das Programm.

Man könnte die zirkusgerechte Musik der grünen Kusinen auch als Balkan-Brass-Mischung mit Klezmer-Einschlag bezeichnen, sie selbst nennen sich stolz die „sexiest Klezmer-Band Berlins“. Vor kurzem haben sie ihre erste CD eingespielt. Die heißt „Klezmer's Paradise“, erscheint in Eigenregie und wird bei Konzerten und übers Internet vertrieben. Seit fünf Jahren sind die Kusinen zusammen – der Trompeter war früher bei einer bekannten Folk-Punk-Kapelle aus Ostberlin, der Tuba-Spieler kommt vom Ska. Häufig werden sie für Geburtstage, zu Hochzeiten und Vernissagen gebucht, und sie sind stolz darauf, sowohl Punks als auch Klassikhörer gleichermaßen für sich gewinnen zu können.

Aber warum ausgerechnet mit Klezmer? Alexandra Dimitroff hat eine Erklärung für die Party-Popularität ihrer Kapelle. Sie hat den „Verdacht, das sich die Leute nach direkter Emotionalität sehnen“, schließlich finden auch Paartänze wie Tango oder Salsa wieder stärkeres Interesse. Beim Klezmer kommt noch der Déjà-vu-Effekt dazu, denn die Musik klingt für deutsche Ohren vertraut, aufgrund der Nähe zum Osten und dank der süddeutschen Herkunft des Jiddischen. Auch für Alexandra Dimitroff war die Wahl der Klezmer-Musik eine reine Gefühlsentscheidung, die Affinität vielleicht auch ein wenig bedingt durch ihren bulgarischen Vater. Berührungsängste hatte sie jedenfalls keine. Sie singt zwar nicht auf Jiddisch, „das klänge aufgesetzt“. Aber „der Vorwurf, wir dürften das als Nicht-Juden eigentlich gar nicht, kommt eher selten.“ Die grünen Kusinen machen Klezmer, so wie andere Blues oder Rockabilly spielen: ohne große Botschaft. Deswegen lassen sie sich nur ungerne als Kronzeugen der Vergangenheitsbewältigung zitieren: „Man muß schon aufpassen. Wir wollen nicht in den Geschichtsunterricht einbezogen werden, ohne dass man uns vorher fragt.“

Eine Erweiterung des Klezmer-Begriffs

Giora Feidman hat damit weniger Probleme. Vor 15 Jahren engagierte Peter Zadek den virtuosen Klarinettisten aus Israel für seine Inszenierung „Ghetto“. Diverse Male stand der Musiker seitdem auf deutschen Theater- und Opernbühnen, zuletzt war der prägnante Klang seiner Klarinette in den Filmen „Comedian Harmonists“ und „Schindlers Liste“ zu hören. Inzwischen ist der 63-Jährige, zumindest hierzulande, zum Inbegriff der Klezmer-Musik geworden, konkurrenzlos tituliert als „King of Klezmer“, und wird öfter mal zur Feierstunde in den Bundestag oder zu anderen repräsentativen Terminen geladen.

Kürzlich gastierte der König in der Berliner Philharmonie, mit seinem neuen Programm „Journey“, einer musikalischen Butterfahrt über die fünf Kontinente. Mal von einer indischen Sitar, mal von einer Flamenco-Gitarre begleitet, unternahm Feidman Ausflüge in andere folkloristische Gefilde und streute Zitate aus dem Kanon der europäischen Klassik in sein Spiel. Klezmer als musikalisches Potpourri, ein bißchen wie in „Erkennen Sie die Melodie?“

Solch mutwillige Erweiterung des Klezmer-Begriffs findet natürlich nicht nur Zustimmung. Aber Giora Feidman ist kategorisch gegen jede Klassifizierung des Klezmer als „jüdische Musik“. „Klezmer bedeutet, den Körper zum Instrument zu machen, zu singen“, befindet er, und sich selbst sieht er als einen „Sänger, der durch sein Instrument singt“. Oder, poetischer ausgedrückt: „Die Klarinette ist das Mikrofon meiner Seele.“ Singen, so Feidman, sei eine Notwendigkeit, ein Mittel der Kommunikation. Aber gerade in Deutschland sei dieses Wissen verloren gegangen.

Weil aber noch mehr verloren gegangen ist, sieht sich Giora Feidman gleich im doppelten Sinne als Musiktherapeut der deutschen Seele, der auch Absolution verspricht von der Vergangenheit. „Klezmer hat eine wichtige Rolle gespielt bei der Versöhnung zwischen Juden und Deutschen. Aber dieser Heilungsprozess ist heute abgeschlossen“, glaubt Feidman. Und „dass ich so positiv aufgenommen worden bin in Deutschland, das ist doch ein großartiger Beweis der Menschlichkeit“. Deswegen sieht er es auch als seine Aufgabe an, im Ausland für dieses Deutschland zu werben. „Ich bin kein Missionar, ich bin ein Künstler. Aber alle Künstler verspüren eine Art Mission.“

Eine ganz andere Mission verspürt Irith Gabriely. Die 49-jährige Klarinettistin, in Israel geboren, lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Vor zehn Jahren produzierte sie mit ihrer Band „Colalaila“ eine erste CD, „Train to Masada“, die sich zunächst in jazzige Richtung bewegte. Ihr drittes Album kommt nun deutlich religiöser daher. „Kol Nidrej“, das heiligste jüdische Gebet, und das Totengebet „Kadish“ stehen da neben vertonten Kindergedichten und osteuropäischen Volkstanz-Variationen, auf einigen Stücken erklingt der eindrucksvolle Bass des Kantors der Darmstädter Synagoge, William Usher. Für Konzerte schlüpft sie, mit Melone und schwarzem Gehrock, gerne in die Tracht orthodoxer Männer. Solch Spiel mit religiösen Schlüsselreizen wirkt etwas dick aufgetragen. Doch Gabriely setzt die Symbolik bewusst ein.

„In den letzten Jahren ist Klezmer zur Mode geworden. Nicht-jüdische Gruppen trennen die Musik von der Tradition. Aber das ist mir zu schade um die jüdische Tradition“, sagt sie. Über Klezmercombos, die „nie in Jerusalem waren und nicht wissen, was der Sabbath ist“, kann sie sich ärgern. „Aus Trotz konservativ“ sei sie deswegen geworden. Nun will sie ihren Teil dazu beitragen, dass sich die Klezmer-Musik nicht ganz vom jüdischen Gemeindeleben abkoppelt.

Bei orthodoxen Verwandten in Israel glaubt sie die Fortsetzung jener „verschwundenen Welt“ aus Osteuropa gefunden zu haben. Dort, im kleinen Kreis der chassidischen Juden, ist Klezmer keine konzertante Musik, sondern integriert in das religiöse Ritual. Etwas von dieser Frömmigkeit will Irith Gabriely auch dem Klezmer in der Diaspora einflößen.

Wahrscheinlich macht sie das erst recht interessant für ein deutsches Publikum. Denn nirgends ist das Interesse von Nichtjuden am Judentum so groß wie in Deutschland, und entsprechend hat hier die Klezmer-Musik in den letzten zehn Jahren eine Präsenz erlangt wie sonst bestenfalls noch in den USA, dort allerdings aus anderen Gründen. Für die Protagonisten des US-amerikanischen Klezmer-Revivals jedenfalls ist die Bundesrepublik längst zum lukrativsten Auftrittsort geworden. Nur mit dem notorisch schlechten Gewissen des deutschen Publikums lässt sich das Phänomen nicht erklären. Mag sein, daß sich mancher eine Klezmer-CD als ganz persönliches Holocaustmahnmal ins Regal stellt. Aber allein zur Wiedergutmachung geht man nicht in ein Konzert.

Doch woher rührt dann die Faszination? Der niederländische Publizist Ian Buruma sieht sie in einem Mißverständnis begründet: weil ohne den Beitrag jüdischer Künstler und Intellektueller das Berlin der 20er-Jahre nicht zu seinem kulturellen Höhenflug fähig gewesen wäre, identifiziert sich mancher heute aus einer diffusen Nostalgie heraus mit Relikten des osteuropäischen Judentums – das allerdings für die jüdische Elite der Weimarer Republik in keiner Weise maßgebend war.

Ein anderes Motiv erkennen die in Berlin lebenden Musikwissenschaftler Joel Rubin und Rita Ottens, die über die Geschichte des Klezmer geforscht und kürzlich ein gemeinsames Buch veröffentlicht haben. Sie beurteilen das Klezmer-Revival, auch das in den USA, äußerst kritisch. In der deutschen Identifikation mit Juden und ihrer Musik sehen sie ein identitätsstiftendes Moment für die neue „Berliner Republik“, sogar für einen neuen Nationalismus. Denn in der deutsch-jüdischen Synthese der Klezmer-Musik schimmert das Bild eines besseren Selbst auf. Der Musik kommt dabei eine symbolische Rolle zu, als Nachweis moralischer Reife.

Zweifellos weist der gegenwärtige Klezmer-Boom weit über die Musik hinaus. Etwas angestrengt wirkt die Begeisterung vor allem, vergleicht man sie mit dem verbreiteten Desinteresse an der Musik anderer Bevölkerungsgruppen, etwa der türkischen oder der vietnamesischen Minderheiten; es entspricht den beiden völlig verschiedenen Ebenen, auf denen über den Bau des Holocaust-Mahnmals und die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts diskutiert wird. Im Klezmer-Kult spiegelt sich ein Deutschland, das seinen Frieden mit seiner Vergangenheit gemacht hat. Was es daraus für die Gegenwart gelernt hat, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt. Literatur:

Rita Ottens und Joel Rubin: „Klezmer-Musik“, dtv, 19,10 DM Susan Bauer: „Von der Khupe zum Klezkamp. Klezmer-Musik in New York“. Buch und CD (Piranha)