Jelzin rammt sich durch die Sicherheitskonferenz

■  Russlands Präsident verlässt aus Ärger über Kritik am Tschetschenien-Krieg den OSZE-Gipfel in Istanbul. Aussenminister einigen sich auf Sicherheitscharta

Istanbul (taz) – Boris Jelzin kam, polterte und ging. Offenbar aus Verärgerung über die westliche Kritik am russischen Feldzug gegen Tschetschenien verließ Russlands Präsident gestern vorzeitig den Gipfel der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Kurz vorher hatte er eine Unterredung mit Bundeskanzler Schröder und dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac nach wenigen Minuten abgebrochen.

Trotz dieser Verstimmung zum Auftakt des zweitägigen OSZE-Gipfeltreffens der 55 Staats- und Regierungschefs in Istanbul einigten sich am Abend die Außenminister Russlands, der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Italiens und Frankreichs auf die Unterzeichnung der Europäischen Sicherheitscharta und der „Schlusserklärung von Istanbul“, die für heute vorgesehen war. „Der Weg für die Zeichnung ist frei“, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Andreas Michaelis.

Die Außenminister legten auf diese Weise den Streit bei, der Boris Jelzin wenige Stunden zuvor veranlasst hatte, den Gipfel vorzeitig zu verlassen. Wesentlicher Bestandteil einer Unterzeichnung, so Michaelis, sei die Zustimmung Russlands zu einer politischen Lösung in Tschetschenien. Russland spricht den übrigen OSZE-Mitgliedern, allen voran den USA und den Mitgliedern der EU, das Recht ab, sich in diesen Konflikt einzumischen. Trotz der jetzt erzielten Einigung bedeutet die harte Position Russlands zumindest einen atmosphärischen Rückschlag für das gesamte Konzept gemeinsamer Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa.

Die Tagungsregie wollte es, dass der russische Präsident bereits als zweiter Redner die Gelegenheit erhielt, den Ton für das Treffen vorzugeben. Weit entfernt von jeder Selbstkritik verfuhr Boris Jelzin nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ und geißelte die US-Aggression gegen Serbien. Die auch während der letzten UN-Vollversammlung diskutierten generellen Überlegungen zu „humanitären Interventionen“, mit denen die Souveränität der Nationalstaaten eingeschränkt würden, bezeichnete Jelzin als „ganz schlechte Idee“. Innerhalb der OSZE dürfe es nur Aktionen im Einverständnis aller Mitglieder geben.

Hintergrund der Verschiebung der Unterzeichnung der „Schlusserklärung von Istanbul“ war, dass viele Länder eine von Russland unterzeichnete Sicherheitscharta als wertlos empfinden, solange Russland in Tschetschenien eklatant gegen diese Charta verstößt. Um Jelzin zum Einlenken zu bewegen, legten sich sowohl Schröder als auch US-Präsident Clinton mächtig ins Zeug.

Schröder forderte Jelzin auf, den „massiven Gewalteinsatz gegen die Bevölkerung in Tschetschenien zu beenden, und rief dem russischen Präsidenten zu: „Lösen Sie den Konflikt mit politischen Mitteln! Respektieren Sie die von uns gemeinsam akzeptierten Regeln und Prinzipien der OSZE. Unterminieren Sie nicht die Glaubwürdigkeit der Organisation insgesamt.“ Unmittelbar nach Schröder sprach Clinton und erinnerte Jelzin an dessen Eintreten für Freiheit und Demokratie 1991 und die Unterstützung der westlichen Welt für sein damaliges Auftreten. „Ich werde nie vergessen“, wandte sich Clinton direkt an Jelzin, „wie Sie auf dem Panzer in Moskau standen und riefen: Wenn man uns die Freiheit nehmen will, muss man mich zuerst töten.“ So wie damals, als die Frage von Freiheit und Demokratie in Russland keine „nationale Angelegenheit“ war, sei es auch heute, so Clinton.

Hinter den Kulissen wurde verhandelt, um gemeinsam mit Russland eine Schlusserklärung zustande zu bringen, die den Widerspruch zwischen der Sicherheitscharta und dem Treiben Russlands im Kaukasus etwas mildern soll. Der Westen will, dass Russland eine OSZE-Delegation in Tschetschenien zulässt, die die Aufgabe haben soll, den Konflikt zu moderieren und eine politische Lösung zu finden. Jürgen Gottschlich

Zu Tschetschenien: Interview Seite 10, Portraits Seite 11