Mörderische Panik vor Homos

Der Prozess um den Mord an einem jungen Schwulen hat die öffentliche Diskussion um eine Erweiterung der „Hate Crime“-Gesetzgebung in den USA erneut ausgelöst. Ein alter Streit vor neuen Hintergründen Von Peter Tautfest

In einem für das US-amerikanische Rechtssystem recht ungewöhnlichen Deal schenkte der Vater des ermordeten Studenten Matthew Shepard dem Mörder Aaron McKinney das Leben. Der Prozess um den Mord an dem 21-jährigen Studenten ist in diesem Jahr zu einem Fanal gegen die Gewalt gegenüber Homosexuellen geworden.

Matthew Shepard war im Oktober 1998 in der Ortschaft Laramie im Bundesstaat Wyoming von zwei Jugendlichen in ihrem Truck mitgenommen worden. Die beiden hatten Shepard in einer Bar getroffen. Nachdem sie ihm zwanzig Dollar abgeknöpft und ihn mit einer Pistole halb totgeschlagen hatten, fesselten sie Shepard draußen am Stadtrand an einen Viehzaun, wo er achtzehn Stunden später von Spaziergängern gefunden wurde. Matthew Shepard starb fünf Tage später im Krankenhaus. Die Täter wurden schnell gefasst und in getrennten Prozessen im Sommer und Herbst dieses Jahres schuldig gesprochen.

Bei den Verhandlungen um die Strafzumessung hatte Matthew Shepards Vater der Staatsanwalt vorgeschlagen, von der Beantragung der Todesstrafe gegen den Hauptangeklagten Aaron McKinney abzusehen, wenn der Angeklagte im Gegenzug auf Einspruch und Revision verzichtet. Shepard wollte so verhindern, dass der Mörder zu einer Medienberühmtheit wird und durch seinen Kampf gegen die Vollstreckung des Todesurteils immer wieder auf sich aufmerksam machen kann. Im Prozess sprach der Vater des Opfers das letzte Wort: „Ich schenke dir das Leben, damit du jeden Tag an das Leben denkst, das du ausgelöscht hast.“

„Für mich wird mein Sohn immer mein Held sein“, sagte der Vater vor weinenden Geschworenen in einer Rede, die landesweit in vielen Zeitungen abgedruckt wurde. Selten hat von derart exponierter Warte aus ein Vater sich derart eindeutig zu seinem homosexuellen Sohn bekannt und sich zugleich zu einer für Amerikas Rechtsverständnis höchst ungewöhnlichen Geste durchgerungen: Er begnadigte den Mörder seines Sohns.

Das Strafverfahren um den Tod des Matthew Shepard und die öffentliche Anteilnahme wühlte noch einmal die Diskussion um die Rechte der Homosexuellen in Amerika auf. Wäre dieses Verbrechen verhindert worden, hätte Wyoming ein Hate Crime-Gesetz gehabt? Hassverbrechen sind Verbrechen, die kein anderes Motiv haben als den Hass auf das Opfer beziehungsweise die Gruppe, der es angehört. „Alle Verbrechen sind doch Hassverbrechen“, sagte George W. Bush, bisher noch vorne im Wettbewerb um die republikanische Präsidentschaftskandidatur, als er nach einem Massaker in einer Kirche in Fort Worth zu seiner Position zu Hate Crime-Gesetzen befragt wurde. Autodiebstahl, Bankraub, Umweltverbrechen sind natürlich sämtlich keine Hate Crimes, für Bush aber ist die Frage knifflig, denn noch im Frühjahr hatte er eine Novelle des in Texas geltenden Hate Crime-Gesetzes bei rassistisch motivierten Verbrechen verhindert.

Das Gesetz sollte um den Tatbestand des Verbrechens an Schwulen und Lesben erweitert werden. Bush wollte ein solches Gesetz nicht unterschreiben, um gegenüber seiner konservativen Wählerbasis nicht als jemand dazustehen, der Homosexuellen besonderen Rechtsschutz gewährt. Mit einem Veto belegen wollte er ein solches Gesetz aber auch nicht, weil das einen Aufschrei der Empörung unter den Betroffenen sowie liberalen Wählern heraufbeschworen hätte. Parlamentarische Manöver sorgten schließlich dafür, dass das Gesetz nie zur Abstimmung gelangte.

Hate Crime-Gesetze sind umstritten. Die einen sagen, sie nützen nichts, die Verbrechen, gegen die sie sich richten, würden auch so bestraft. Besondere Gesetze für Hassverbrechen aber bestrafen das Motiv und nicht die Tat. Der eigentliche Stein des Anstoßes bei der Diskussion um Hate Crimes aber ist die Frage, ob auch Verbrechen an Homosexuellen durch entsprechende Gesetze geahndet werden sollen. Die einen sagen, das sei unbedingt erforderlich, weil Schwule und Lesben sonst Freiwild sind. Das Gegenargument lautet: Schwule brauchen, anders als ethnische Minderheiten, keinen besonderen Schutz, denn sie suchten sich ihre Homosexualität ja aus. Besonderer Rechtsschutz liefe auf Sonderrechte hinaus. Die Auseinandersetzung ist ein Echo der Diskussion über Kündigungsschutz für Homosexuelle.

Der Mord an Matthew Shepard gab der Debatte neuen Auftrieb. Was den einen Hate Crimes sind, das ist der andere Seite die sogenannte „Panikverteidigung“. Der Verteidiger von Aaron McKinney, Jason Tangeman, hatte geltend gemacht, dass sein Mandant in Kindheit und Jugend mehrfach sexuell missbraucht worden sei, vor allem vom Raufbold seines Stadtviertels. Shepards vermeintlicher Flirtversuch habe ihn an die erlittene Erniedrigung erinnert, worauf bei McKinney eine Sicherung durchgebrannt sei.

Diese Verteidigung löste bei der Human Rights Campaign, einer nationalen Organisation für die Rechte von Schwulen und Lesben, einen Sturm der Entrüstung aus. Sollte dieses Argument durchkommen, könnte künftig jeder Schwule damit rechnen, Gewalt auf sich zu ziehen, weil jeder Gewalttäter sich auf einen wirklichen oder behaupteten sexuellen Missbrauch berufen könnte.

Der Begriff Gay Panic wurde in den Fünfzigerjahren geprägt – als die moderne US-Homosexuellenbewegung an die Öffentlichkeit zu gehen begann. In ihren Reihen wurde argumentiert, Homosexualität wäre verbreiteter, hätten Männer nicht schon vor der schieren Vorstellung der Homosexualität panische Angst; gemeint war die Angst heterosexueller Männer, ihrem eigenen homosexuellen Potenzial eine Chance zu geben. Der Begriff wurde später durch den heute gängigeren der Homophobie ersetzt, womit die in Hass gegen Homosexuelle umgewandelte Angst vor Homosexualität gemeint ist. Eine Gay Panic-Verteidigung wäre darauf hinausgelaufen, dem antischwulen Affekt einen Freibrief zum Mord auszustellen. Der Richter im Fall Shepard hat das gesehen und die Gay Panic-Strategie der Verteidigung nicht zugelassen.

Der Mord an Matthew Shepard hat eine Vorgeschichte. Am 15. Juni 1998 trat Trent Lott, der Führer der republikanischen Mehrheitsfraktion im amerikanischen Senat, in einer TV-Talkshow vor die Mikrofone: Homosexualität sei eine Sünde, eine Verirrung, eine Krankheit wie Alkoholismus, Kleptomanie oder Sexbesessenheit und müsse entsprechend behandelt werden. Der Aufschrei über so viel Unaufgeklärtheit war noch nicht verklungen, da erschien am 13. Juli in der New York Times eine ganzseitige Anzeige einer sich „Exodus“ nennenden Gruppe. Homosexualität sei durch die Liebe Gottes zu überwinden, war die Message.

In der Anzeige stellte sich eine gewisse Anne Paulk vor, angeblich eine ehemalige Lesbe, die sich durch Hinwendung zu Christus von ihrer Homosexualität befreit habe und heute ein glückliches Leben als verheiratete Frau führe (in weiteren Anzeigen bedankte sich „Exodus“ ausdrücklich bei Trent Lott dafür, zu „sexueller Sünde“ Stellung bezogen zu haben). Die liberalen Medien stürzten sich auf diese Anzeige und wiesen nach, dass es für Anne Paulks Homosexualität keine Zeugen gab und dass „Exodus“ bei der „Heilung“ von Homosexualität bisher erfolglos blieb – im Gegenteil: Ehemals hilfesuchende Schwule meldeten sich und warfen „Exodus“ Tortur vor.

Trent Lotts Auftritt und die vom „Komitee zur Wiedereroberung Amerikas für Christus“ zum Preis von zweihunderttausend Dollar gestartete Anzeigenkampagne waren freilich nicht nur faulige Blasen, die aus dem Sumpf des Obskurantismus aufstiegen, sondern durchdachte Parteipolitik. Denn 1998 war ein Wahljahr, und die Fronde gegen Homosexuelle sollte die Parteibasis der Republikaner, die christliche Rechte, mobilisieren. Bei der niedrigen Wahlbeteiligung in Amerika gewinnt, wer seine Hausmacht, seine Stammwähler und am stärksten ideologisch motivierte Gefolgschaft mobilisieren kann.

Diesem Zweck diente der konzertierte Angriff. Nur hatte er eine Nebenwirkung. Die erneut entbrannte Diskussion darüber, ob Homosexualität eine Spielart menschlicher Sexualität oder eine Sünde sei, trug das Ihre zu einer Hatz auf Homosexuelle bei, deren direktes oder indirektes Opfer Matthew Shepard wurde.

Ein Jahr später – und wieder wirft das Wahljahr seine Schatten voraus – haben sich die Fronten einigermaßen verändert. „Die Tage, da die Schwulen und Lesben die Parteien und Kandidaten umwerben mussten, sind vorbei“, sagt Urvaschi Vaid, Direktor des New Yorker „Zentrums für schwule Politik“, „jetzt kommen sie zu uns.“ In der Tat überschlagen sich zur Zeit Politiker und Kandidaten dabei, die Schwulen zu umwerben. Industrie und Einzelhandel sind auf die schwule Marktlücke aufmerksam geworden und umwerben den schwulen Dollar – in einer Werbung für Budweiser beispielsweise halten zwei Männer Händchen.

Symptomatisch für das ambivalente Verhältnis der heterosexuellen US-Bürger zu Schwulen und Lesben ist das Ergebnis einer Umfrage, die unter anderem dieWashington Post voriges Jahr durchführte: 57 Prozent der Befragten lehnten Homosexualität für sich persönlich als inakzeptabel ab. 87 Prozent aber fanden, dass Schwule und Lesben die gleichen Rechte und Chancen haben sollten wie alle anderen Menschen auch.

Peter Tautfest, 57, ist taz-Reporter in Washington