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Highlander Estländer

■ Welche Vision hätten's denn gern? Beim „mare balticum“-Festival in Oldenburg ist Europa noch keine so freundliche Veranstaltung, wie es sich PolitikerInnen wünschen

Über Geschichte und Identität wird in diesem deutschen November viel geredet. Man spricht von Verantwortung, mahnt, gibt Beispiele, und die Rede ist nach Willy Brandt von dem, was noch „zusammen-wachsen“ muss, weil es doch „zusammen gehört“. Längst schon beschränkt sich diese These nicht mehr auf die Bundesrepublik. Deutschland macht vielmehr angeblich vor, was nun auch den anderen europäischen Ländern blüht: eine gemeinsame Währung, ein gemeinsamer Lebensstil, ein gemeinsamer Supermarkt. Und ein gemeinsames Geschichtsbewusstsein wird auch beschworen.

Die aktuelle Kunst an den Schnittstellen Europas spricht dagegen eine andere Sprache. Dies jedenfalls schimmert aus dem „mare balticum“-Festival in der Oldenburger Kulturetage mehr als deutlich hervor. Peter Jalakas nimmt den PC und forciert damit in „Estonian Games: Wedding“ einen Ritt durch die estnische Geschichte. Er bedient sich damit eines Mediums, dem das Konnotat des Weltumspannenden, ja Kosmopolitischen anhängt. Das Thema der Einstudierung aber fokussiert sich auf die 900 Jahre estnischer Geschichte – bis ins Unabhängigkeitsjahr 1992.

Auf eine riesige Bühnenleinwand wird das Videospiel „Estonian Games“ heruntergeladen. Per Mausklick landen wir auf dem Planeten Erde im Jahr 1101, in Europa. „Good Choice“, vermeldet das Programm, doch vor Estland wird gewarnt: „Unpleasant Neighborhood.“ Denn da sind die Russen, die Schweden, die Polen, die Deutschen, von denen das kleine Ländchen in einem wahren Wargame durch die Jahrhunderte hinweg drangsaliert wird. In dieses Geschehen lässt der Regisseur am Laptop Gestalten von der Leinwand auf die Bühne steigen.

Die Frauen des berühmten Leiku-Chores singen in schillernder Tracht Trauungslieder aus dem Setuland. Unbeirrt von den Wirren der Geschichte übergeben sie im uralten Ritual die Tochter in die Gemeinschaft der Frauen – Bilder von matriarchaler Kraft. Während dessen widerstehen der Fischer Oskar und Talja – als typisierte Individuen – durch die Jahrhunderte hinweg mit allen Mühen den Begehrlichkeiten der Nachbarn. Die Schaltflächen des Spiels bieten ihnen „War“, „Game“ und „Magic“. Die Esten tippen stets auf „Magic“, doch damit lassen sich schließlich keine Kriege führen.

Eine bunte Bildschirmoberfläche und ein archaisch anmutendes Schauspiel, englische PC-Kommentare und kullerndes Estnisch, Befehle eines technischen Systems und anarchisch-mystische Action: Die permanente Reibung von Form und Inhalt wirkt köstlich ironisch.

Einen anderen Blickwinkel wählt die musikalische Choreographie „Obstruction Ultimatique“ des Dänen Palle Granhoj. Vier AkteurInnen und drei Musiker verweben ihre persönlichen Geschichten mit Häppchen aus anderen Kulturen. Ein Niederländer lässt auf einer arabischen Leier ein archaisches Klanggewebe erstehen, kraftvoll und rhythmisch. Nach dem Vorbild der Talkshow wird hier jedes Individuum gnadenlos nackt vorgeführt, mit den Sehnsüchten, Handicaps, Ticks. Der eine träumt von einer Tankstelle in der Wüste, die andere von Holiday on Ice.

Geschichte ist persönlich, Identität eine Frage der Wahl, auf jeden Fall aber transeuropäisch, suprakontinental, exorbital ... und doch menschlich, bisweilen komisch. Nation, Individuum, Brim-borium ... Welche Vision hätten's denn gern, Fräulein Europa?

Marijke Gerwin

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