Beschleunigter Verfall

■ Als sei das Buch selbst besoffen: Wilfried Ohms' Roman „Kaltenberg“ bewegt sich auf überaus unsicherem Terrain

Selten sagt jemand so oft „ich“ und ist sich dabei seiner selbst so ungewiss wie die Hauptfigur in „Kaltenberg. Ein Abstieg“, einem Roman des österreichischen Autors Wilfried Ohms. Kaum überschaubar die Male, in denen der Protagonist, ein von Wien nach Polen beorderter, „knapp dreißigjähriger Handelsvertreter“ namens Kaltenberg, nicht Herr seiner Schritte und Entscheidungen ist. Dass er trinkt, erklärt den Selbstverlust. Dass er gutgläubig ist in der kalten Welt, die ihn umgibt, beschleunigt den Verfall. Und dennoch: Als bliebe es ungerührt vom eigenen Niedergang, behauptet sich das Ich als Subjekt auf jeder Seite des Buchs.

Ähnlich widersprüchlich ist es um die Grundsituation bestellt, die Ohms entfaltet. Da gibt es die nur in Rudimenten ausgeführte Rahmenhandlung, in der Kaltenberg der Schwester in Wien einen Brief schreibt. Ein Brief, der die Stationen des Verfalls notiert, ein Rechtfertigungsversuch, der um seine Vergeblichkeit weiß. Diese aus der Ich-Perspektive geschilderten Passagen bilden die Binnenhandlung. Oder doch nicht?

Am Ende nämlich landen die Seiten, bei deren Verfertigung man Kaltenberg – wie man glaubt – über die Schulter schaut, in einer Senkgrube – ein Echo auf eine gleich am Anfang gefallene Formulierung, in der Kaltenberg schon erwägt, ob er die Briefe nicht lieber ins Klo spülen soll. Was aber lesen wir dann, wenn die Briefe – und mit ihnen die Seiten des Buches – neben Kot und Unrat verrotten? „Kaltenberg“ steckt voll solcher Widersprüche. Die Tristesse, durch die sich die Hauptfigur bewegt, wird plastisch ausgemalt, scheint aber mehr behauptet denn belegt. Die Chiffren des Ekels grüßen, oft heißt es: „Ich würgte einen Schwall Bier vor die Beine eines Mannes.“ Oder: „In diesem Moment stieg mir fauliger Durchfallgestank in die Nase.“ Das macht, was noch kommen wird, vorhersehbar. Wo gleich der dem ersten folgende Abschnitt voll ist mit „Witwen“ und „Trauerkleidung“ , folgt wie von selbst, dass die Misere keinen Ausweg kennt. Außerdem gibt es viele Anspielungen auf Kafka oder Bernhard, die Ohms' Roman wohl veredeln sollen, und manche Ungereimtheiten, die wie plumpe Fehler ausschauen. Dass Kaltenbergs Armbanduhr, nur als Beispiel, bei einer seiner Sauftouren kaputtgeht, wird doppelt erwähnt, wobei es beidesmal so klingt, als sei noch kein Wort darüber verloren.

Der drastische Ton, der Plattitüde bleibt, die Wiederholungen und die Widersprüche: All das, was gegen den Roman spricht, verwundert umso mehr, als „Kaltenberg“ doch immerhin die alleinige deutschsprachige Veröffentlichung ist, die der renommierte Münchner Sachbuchverlag C. H. Beck in sein gerade lanciertes literarisches Programm aufgenommen hat. Was fängt eine so ambitionierte Unternehmung mit einem Buch an, dessen Autor den Überblick verloren hat? Rettung findet „Kaltenberg“ allein darin, dass sich der Roman auf ebenso unsicherem Boden bewegt wie sein Protagonist. In den Unstimmigkeiten, dem düsteren Geplapper, den sinnlosen Wiederholungen führt sich Ohms' Buch auf, als sei es selbst besoffen. Cristina Nord
‚/B‘Wilfried Ohms: „Kaltenberg. Ein Abstieg“. Beck-Verlag, München 1999. 176 Seiten, 34 DM