Das Verschwinden von No. 26

■  Ein Buchstabe in der Kritik – Disput über die Notwendigkeit jenes Symbols am äußersten rechten Rand unseres Alphabets. Einfach weglassen? Das wäre doch etwas sehr einfach

Kann es sich ein täglich erscheinendes Blatt leisten und einen, nämlich den hinteren Buchstaben des Alphabets meiden, umgehen, ja komplett tilgen?

Den, der am Ende weilt, beißen offenbar immer die Hunde. Müssen aber auch bei der linken und fortschrittlichen Presse derart barbarische Sitten einreißen? Darf die Redaktion dieses Organs der freien Welt einfach beschließen: Wir radieren kollektiv – und probehalber – ein Mitglied unserer Schriftkultur aus!? Weil sie vielleicht meint, 25 Buchstaben wären genug? Und sollten weiß Gott reichen? Die natürlichen Ressourcen sind ja auch limitiert, warum nicht den Buchstabenverbrauch einschränken?

Wir schwanken selbst und stellen deshalb einige wissenschaftliche Positionen vor, die für oder gegen die Eliminierung des heute geschmähten, strikt gemiedenen Buchstabens sprechen. Sie mögen dem Leser als Diskussionshilfe oder -anregung dienen, ob denn eine derart radikale Maßnahme, welche womöglich die Grundfeste unserer Bildung angreift, legitim oder sinnvoll, gewinnbringend oder töricht, irrwegig oder gar idiotisch ist.

Vorab wollen wir jedoch energisch in Rechnung stellen: Nicht wenige Erscheinungen und Personen des öffentlichen Lebens lassen es angeraten scheinen, dass man den alphabetischen Hinterbänkler wenigstens für einen Tag rausschmeißt – vor die Tür stellt wie den lästigen Sperrmüll, einfach der garstigen Witterung oder einer unbekannten Wiederverwertung überantwortet.

Eine schon im Titel unerträglich nah an unserer und, liebe Abonenntin, lieber Abonennt, Ihrer allmorgendlichen Lektüre operierende Tagespublikation aus München, die leichthin das „a“ ignoriert, sähe ohne unseren Delinquenten kein Land mehr und verschwände; es wäre ein Segen. Oder: Brauchen wir wirklich das sudetendeutsch dominierte Nest im Bayerischen Wald, dessen Namen man lieber gar nicht erst nennt? Oder wie steht es mit dem aus Dresden abkünftigen ewigen Talent des FC Bayern München, das auf dem linken Flügel flinke Läufe unternimmt, die stets im Abseits oder auf der Aschenbahn enden? Und warum entschied die ARD: Wir kippen Friedrich Küppersbuschs Politsatiresendung?

Man sieht, die Sache verhält sich nicht einfach. Vielleicht helfen Ihnen und uns die folgenden fachkundigen Urteile hinsichtlich der Frage, ob, machte unsere heutige avantgardistische Ausgabe Schule, ein kleiner, gar nicht mal ungeläufiger Buchstabe das Weite suchen sollte – und welche Folgen ein solch singulärer Vorgang auslösen könnte.

1) Wir hätten es einfacher haben und Freistellen dort lassen können, wo das verstoßene Schriftelement gewöhnlich seinen angestammten Ort findet, in Wörten wie orn, ahn oder aun. Damit wäre jedoch die Ernsthaftigkeit unseres gewagten Unterfangens auf den ersten Blick diskreditiert gewesen. Ohnehin lehrt die angewandte Linguistik: Während des sog. Lückentests hüpft der lesende Proband per sarkadischer Sprünge problemlos über derartige Hohlräume und vervollständigt Fünferbuchstabengruppen korrekt. Es scherte ihn wenig, dass ein Bestandteil der ihm vertrauten Textstruktur fehlt. Somit liegt hier noch kein Argument pro oder contra vor, und die lexikalische Herausforderung: „Baut eine Nummer, in der von dem verdammten Alphabetschlussstein nirgends die Rede ist!“ – sie wäre ab ovo gescheitert (gewesen).

2) Der Versuch des Ignorierens dessen, was wir selbstverständlich im Rahmen oraler und schriftfixierter Artikulation gebrauchen, findet Beifall von allen ambitionierten Künstlern und Literaten. Sie fühlen sich daran erinnert, wie mühsam, aber schließlich befriedigend es sein kann, sucht man beharrlich Synonyme, Entsprechungen, Analogien auf allen Ebenen des artistischen Ausdrucks. Denn der finale Laut und Signifikant muss heute und hier gemieden sein. Die praxisorientierte Medienkunde, ein gewichtiger Bereich der neuesten Sprachwissenschaft, interpretiert jene Entsagung als Kreativitätsstimulation, als Herausforderung an das Individuum, das nun seine Sprachfähigkeit steigert und die klassenbedingt „restringierten Codes“ (Bernstein) erweitert. No. 26 verschwindet, mit ihm die Passivkonstruktion des Infinitivs. Endlich werden wieder Parataxen gebildet, werden die Appendixe ins Heideggersche „man“ transponiert, finden Substantive, Adjektive und die direkte Rede größere Beachtung. Die Muttersprache, unser aller Medium der Reflexion, erfährt eine ungeahnte Blüte.

3) Gegen obigen Befund gibt indes die historische Sprachwissenschaft massiv contra. Sie insistiert: Generell müsse man das inkriminierte Wesen hiesiger Exegese inkl. seiner wechselvollen Geschichte bewahren. Es trete bereits im Griechischen auf, als z, und ohne das Griechische fehlte uns jenes Bildungspanorama, vor dem allererst das moderne Subjekt habe sich entfalten können. Der Wiesbadener Professor der Sprachphilosophie, Hubert I., fordert: „Bitte auf keinen Fall etwas beseitigen, was da ist!“ Jegliche wegwerfende Geste, jegliche Entsorgung komme dem Verschrotten alter Liebesbriefe aus bewegten Jugendjahren gleich. Die Tradition gebiete: die antike Errungenschaft beibehalten, um jeden Preis. Das kleine z etwa stelle vor allem nach den Maßgaben der modernsten Linguistik de Saussures und Nachfolger einen hoch entwickelten Artikulationswert dar. Der gewandte und über die Agora wandelnde Polisbürger sei froh gewesen, habe er das polygame z verwenden können – die eleganteste Verbindung der gemeinhin unverträglichen Konsonanten, der sog. Dualkonsonanten. Jene Kombination klang mitnichten reptilienartig giftelnd, sondern stimmhaft, beseelt vom hellen Ton der Vernunft, gesprochen: ts. Noch das Mittelhochdeutsche (vgl. Carl Faulmann: „Buch der Schrift“, Wien 1880) wusste um den bescheidenen, aber relevanten Anteil des alphabetischen Schlusslichts unserer Tage am allgemeinen Wortbildungsgeschehen; allerdings bereits mit der wesentlichen Einschränkung: nur am Anfang graphisch dargestellt, sonst wieder: ts. Welch Paradox!

4) Andererseits legt ein Blick auf die modernen europäischen Sprachen unsere Stirn in Falten. Sicher, im Italienischen finden wir es noch, das unangenehme Geräusch, das dieser liederliche Buchstabe quasi natürlich generiert – kein Wunder, herrschen doch in Italien bisweilen Umgangsformen, die ihre Entsprechung in der Morphologie des beinahe runenförmig gestalteten S-Lautes finden. Europäische Touristinnen jedenfalls können von solchen Erfahrungen, mehrfach durchgemacht etwa an neapolitanischen Straßenecken, vollständige Opern (vgl. Wahrheit, S. 32) singen. Ts, ts!

Betrachten wir dagegen das Königreich Spanien, stellt sich die Angelegenheit stark abweichend, ja: bedeutend besser dar. Mag der Spanier auch Worte wie Tsetse-Fliege kennen und im Tropenkrankenhaus verwenden müssen – generell liegt ihm das weiche, summende S weitaus näher als der hässliche Laut; wo er den Signifikanten direkt artikuliert, existiert er allein als sanft gelispeltes, dem englischen th ähnlicher Ton, und das an buchstäblich jeder Straßenecke. Nicht umsonst spricht sich die einst Gades genannte spanische Hafenstadt [Ka.diß] aus.

Und erst der Portugiese! Nähme sich an ihm der Pole ein Beispiel, er wäre längst Mitglied in der Europäischen Union. So indes wird das nichts. Vollends Rechtens darf daher weder Warschau noch Krakau die Fußballeuropameisterschaft 2004 ausrichten – und eben auch nicht Madrid oder Barcelona –, sondern: das sympathische Land der Nelkenrevolutionäre. Während „good old Hellas“ (M. Scorsese) in Abwehr der Militärdikatur gerade mal Costa-Gavras' abscheulich betitelten Kinofilm fertig brachte, strich Portugal dessen Titel gleich aus dem kollektiven Sprachbewusstsein. Seit 1974 gilt die Regel: das Unaussprechliche wird im An- und Inlaut eines Wortes wie stimmhaftes S gesprochen („Straßenecke“); im Auslaut wie stimmloses Sch („Journalismus“) (vgl. „Bom dia“, Berlin/München 1984).

5) Eine Aufgabe, vorgeschlagen von Professor Gerd Antos, am Schluss. „Entschlüsseln Sie, werte Leser, nachstehende Periode, in der der in diesem Blatt unerwähnte und unentwegt geschmähte Buchstabe durch die Lautfolge ta substituiert ward! ,Tagend settat sich das Taicklein taur Wehr, taugleich der Taerberus dessen Schmerta vermehrt.'“

Sehen Sie, es klappt nicht.

Also lieber ohne.

Carola Rönneburg

und Jürgen Roth