Zwischen Meerjungfrauen und Tristesse

■ n Abseits von Bremerhavens trister Innenstadt hat sich im Fische-reihafen eine bunt glitzernde Ausgeh-meile etabliert. Doch nicht jeder in der Seestadt ist darüber begeistert.

Eine Reportage von Mona Clerico ÄTextÜ und Michael Jungblut ÄFotosÜ

Der Taxifahrer, der mich hergebracht hat, warnt mich: „Laufen Sie hier abends lieber nicht alleine rum! Da ist schon so viel passiert ...“ Ich bin in Bremerhavens früherer Ausgeh-Meile Bürgermeister-Smidt-Straße, der ehemaligen „Alten Bürger“. Die Straße und der dahinter liegende Parkplatz sind leer, auf den Sitzen des Bushäuschens liegt Abfall herum. Einige der Kneipen haben geschlossen. Hinter einer Tür hängt ein Schild, auf dem ein neuer Pächter gesucht wird. Die Frau hinter dem Tresen des Lokals „Ente“ kann die Aussage des Taxifahrers nur bestätigen: „Hier verirren sich öfter mal Gruppen von Unterbelichteten in Springerstiefeln her, die nur auf Ärger aus sind. Wenn wir die früher hier im Laden hatten, waren schon mal Prügeleien oder auch Steinewerfen angesagt.“

Auch in Bremerhavens Fußgängerzone ist trotz der vielen Lokale kaum ein Mensch zu sehen. Von den Fassaden bröckelt der Putz ab. Im „Picalilly“, einer Gaststätte zwischen „Karstadt“ und „C & A“, sitzt nur ein einziger Gast. „Alles ist schlechter geworden“, sagt die Kellnerin. „Nicht nur bei uns, sondern allgemein in Bremerhaven. Schuld ist die Stadtverwaltung. Sie tut nichts gegen die Arbeitslosigkeit und kümmert sich auch nicht darum, dass Fremde in die Stadt kommen. Mich wundert's nicht, dass junge Leute weggehen.“

Szenenwechsel. Fischgeruch liegt in der Luft, Schiffe schaukeln auf dem Wasser und auf den Bänken sitzen alte Damen, die die Schwäne füttern. Vom Meer weht ein eisigkalter Wind, und die bunten Lichterketten vor den ehemaligen Fischhallen hüpfen im Dunkeln auf und ab. Auch die leuchtenden Schilder über den Türen, auf denen Namen wie „Kutterfischer“, „Wikinger“ oder auch „Neptun's Speicher“ stehen, werden vom Wind hin- und hergerissen. Die Eingänge sind mit Fischnetzen, hölzernen Schiffsmodellen und barbusigen Meerjungfrauen geschmückt. Durch die Fenster von „Fiedler's Aalkate“ ist ein großes beleuchtetes Aquarium zu sehen, in dem dicke Karpfen herumschwimmen. Wenn eine der Türen geöffnet wird, dringt Stimmengewirr, Gelächter und Musik ins Freie.

Auch das gegenüberliegende Gebäude ist hell erleuchtet: Aushänge eines Theaters und der Veranstaltungsplan eines „Seefisch-Kochstudios“ hängen in den Schaufenstern, einige Meter weiter kann man die Auslagen verschiedener Boutiquen betrachten. Immer wieder verschwinden dick vermummte Spaziergänger hinter den sich lautlos öffnenden Automatik-Türen, die in die Passage des „Forum Fischbahnhof“ führen.

Auch das ist Bremerhaven: Wir sind im Hafenviertel, im sogenannten „Schaufenster Fischereihafen“. „Vor acht Jahren war diese Gegend hier genauso ausgestorben wie die übrige Stadt“, erzählt Dorothee Starke, die Marketing-Leiterin der „Schaufenster Fischereihafen Werbe- und Veranstaltungs-GmbH“ und Chefin des im Hafen ansässigen Theaters. „Durch die Werftenkrise und die Umstrukturierungen in der Fischwirtschaft waren die meisten Unternehmen hier pleite gegangen. Damals stand man vor der Entscheidung, ob man das ganze Hafenrevier abreißt – oder eben alles saniert und ein Touristenzentrum daraus macht.“ Man entschied sich für letzteres: 1992 eröffnete in der „Halle IV“, dem hintersten Abschnitt der Lager- und Auktionshallen für Fisch, das erste Fischrestaurant am Platz, „Fiedler's Aalkate“. Ihre Betreiber, Brigitte und Hans-Joachim Fiedler, die bis dahin einen Fischgroßhandel geführt hatten, erfüllten sich damit einen lang gehegten Traum. Und das, obwohl sich anfangs eher abzuzeichnen schien, dass es mit dem Aufschwung des Hafenviertels noch eine Weile dauern könnte: „Als wir hier anfingen, war das Viertel eine einzige Baustelle. Der Platz war noch nicht befestigt, es gab keine Straßen hierher, und die Renovierungen an der Halle waren noch nicht abgeschlossen. Und in der Stadt bekamen wir jeden Tag zu hören, dass das alles sowieso nichts werden kann“, erinnert sich Brigitte Fiedler.

Inzwischen würde fast jeder Gastronom in Bremerhaven liebend gerne in den Fischereihafen umziehen. Nach einer Durststrecke von drei Jahren laufen die Geschäfte inzwischen bestens. Während die Finanzierung von Umbau und Straßenausbau in der Anfangszeit noch teilweise über Europa-Gelder lief, trägt sich das Projekt mittlerweile selbst. Die Werbegemeinschaft „Schaufenster Fischereihafen“ unter dem Vorsitz von Hans-Joachim Fiedler kümmert sich nicht nur um die Zusammenarbeit der einzelnen Gaststätten und Geschäfte im „Schaufenster“ – zwischen ihnen gibt es kein Konkurrenzverhältnis, sondern Absprachen über die jeweiligen Zielgruppen und Preisniveaus –, sondern organisiert auch viele andere Veranstaltungen im Fischereihafen: im April die alljährliche Fischparty, am ersten Wochenende im Juli dann das „Hafenspektakel“ und darüber hinaus in regelmäßigen Abständen Gruppenführungen durch den Hafen. Wo noch vor kurzem Ödnis herrschte, boomt heute das Geschäft.

Da konnte es nicht mehr lange dauern, bis hier auch das erste Hotel hochgezogen wurde. Im Juli 1995 errichtete die Hotelgesellschaft Stöcker, Natusch und Wübben einen Steinwurf vom „Schaufenster“ entfernt das Drei-Sterne-Haus „Comfort Hotel“, eine von weltweit über 4000 Filialen der amerikanischen Hotelkette „Choice Hotels“. Anders als für Dorothee Starke und das Ehepaar Fiedler waren für dessen Geschäftsführer Walter Stöcker weder Idealismus noch Lokalpatriotismus für die Entscheidung ausschlaggebend, sich hier im Hafenquartier niederzulassen. „Aus Bremerhaven würde ich lieber heute als morgen fortgehen“, erklärt der Hotelier nüchtern, „die Stadt ist einfach trostlos. Es gibt nichts Schickes zu kaufen, es gibt keinerlei Atmosphäre. Aber die geschäftlichen Prognosen waren gut, und so bin ich eingestiegen.“ Seine Berechnungen waren richtig: Die Lage des Hotels direkt am Wasser und in unmittelbarer Nähe von Restaurants, Theater und Geschäften ist es, was die Touristen aus dem Binnenland suchen und wofür sie Geld auszugeben bereit sind.

Doch obwohl es in Bremerhaven schon beinahe zum guten Ton gehört, von den Entwicklungen im Fischereihafen begeistert zu sein, gibt es doch manche, die auf das Thema eher empfindlich reagieren: Der Inhaber der Gastwirtschaft „Hansetreff“ an der Bürgermeister-Smidt-Straße befürchtet auf meine Fragen hin, man wolle ihn überreden, sein Geschäft ins Hafenviertel zu verlegen: „Ich weiß gar nicht, was dieses Gerede immer soll! Es läuft doch alles wunderbar hier!“ wiederholt er aufgeregt so oft es geht. – „Bei uns ist es doch viel gemütlicher als im Fischereihafen mit den vielen Reisegruppen“, gibt sich auch ein anderer Gastronom an der Straße zunächst betont selbstbewusst. Und kommt etwas später dann doch auf seine Befürchtungen zu sprechen: „Natürlich ist durch das 'Schaufenster' eine gewisse Konkurrenzsituation für uns entstanden. Das Publikum verteilt sich jetzt eben stärker. Manchmal fragt man sich ja schon, ob die Innenstadt nicht allmählich ausblutet ...“

Herbert Franke, Chef der seit einem halben Jahrhundert im Hafen ansässigen Fischräucherei Franke, bedauert vor allem die Veränderung der alten Hafenstruktur. Denn ein Fischereihafen sei nun einmal ein Fischereihafen und kein Touristenzentrum: „Wenn ich in der Politik gewesen wäre, hätte ich dafür gesorgt, dass wir einige Fischdampfer behalten und in dieser Hinsicht nicht so völlig vom Ausland abhängig werden. Ich denke immer noch, dass wir lieber Fisch verarbeiten sollten, anstatt die ganzen Touristen hier hereinzuholen. Aber jetzt ist es zu spät. Das ist eben einfach unsere heutige Zeit...“

Ähnliche Hoffnungen und Befürchtungen, wie sie noch vor wenigen Jahren mit dem Projekt „Schaufenster Fischereihafen“ verbunden waren, hegt man heute in Bezug auf den seit Jahren geplanten und viel diskutierten Themenpark „Ocean Park“. Die Köllmann-Gruppe, ein Zusammenschluss Wiesbadener Bauunternehmer, will mit diesem Park in Bremerhavens Innenstadt eine weltweite Touristenattraktion in Form einer „maritimen Erlebniswelt“ entstehen lassen, wie sie in dieser Form und vor allem diesen Ausmaßen bislang in ganz Deutschland noch nicht existiert. Noch heute ist die Realisierung des Parks unsicher, nicht zuletzt, weil noch immer nicht absehbar ist, ob die Investoren die Finanzierung dieses Projekts finanziert bekommen.

Gegen den Themenpark hat sich eine breite Bürgerinitiative gebildet, die Anhänger in allen Fraktionen findet. Befürchtet wird vor allem die völlige Umstrukturierung des alten Hafenreviers und der Innenstadt sowie das damit möglicherweise verbundene Verkehrschaos. – Für Walter Stöcker ist diese Protesthaltung schlichtweg unverständlich: „Ich weiß gar nicht, was dieses sentimentale Getue um den alten Hafen überhaupt soll“, meint der geschäftstüchtige Hotelier angewidert, „für die Stadt wäre es doch nur zu begrüßen, wenn hier endlich mal was passiert. Der Ocean Park würde eine Menge Arbeitslose von der Straße wegholen und außerdem noch mehr Touristen in die Stadt locken.“ Viele alteingesessene BremerhavenerInnen sehen die Sache skeptischer: „Natürlich wäre es toll, wenn sich Bremerhaven zur internationalen Attraktion entwickeln würde – aber ob dann von der Atmosphäre der alten Hafen- und Arbeiterstadt wohl noch was übrigbliebe?“ fragt sich beispielsweise ein Gast im „Jever-Fass“, einer Wirtschaft an der Bürgermeister-Smidt-Straße. „Das haben wir uns damals beim Fischereihafen allerdings auch gefragt“, erinnert er sich dann – und fügt lächelnd hinzu: „Manchmal weiß man selbst gar nicht mehr, was man sich eigentlich wünschen soll.“

Auch der überzeugten Bremerhavenerin Dorothee Starke fällt es nicht leicht, zum Thema Ocean Park eine eindeutige Stellung zu beziehen: „Eigentlich war ich ja immer gegen das Projekt. Und für die Stadt wäre es wohl wirklich besser gewesen, wenn man das Zentrum in kleinen Schritten saniert und wieder auf Vordermann gebracht hätte. Andererseits ist es jetzt zu spät darüber nachzudenken – dafür wurde bereits viel zuviel investiert. „Jetzt“, so glaubt sie, „gibt es nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder der Park wird ein durchschlagender Erfolg – oder aber es gibt eine Katastrophe für Bremerhaven.“ Mona Clerico