Letzte Ausfahrt Williamsburg

Nach dem Boom der Chelsea-Galerien bildet sich im New Yorker Stadtteil Brooklyn ein neues Kunstzentrum  ■   Von Sabine Russ

Vor wenigen Jahren noch lag Williamsburg, Brooklyn, gewissermaßen jenseits des Horizonts von Manhattan. Inzwischen ist das alte Gewerbe- und Wohnviertel, nur 15 Minuten von Downtown entfernt, zum Kunstmekka geworden. Man spricht sogar von „the hottest“ oder „the coolest art neighborhood in New York“. Wie wichtig das Etikett den in Williamsburg ansässigen Künstlern und Künstlerinnen (Gerüchten nach sollen es an die zehntausend sein) selbst ist, sei dahingestellt. Die Ateliertüren stehen jedenfalls offen, seit eine große Zahl von ihnen in den 80er-Jahren die damals noch erschwinglichen Fabriketagen und Lagerräume bezog.

In der Kunstwelt ernst genommen wird das Viertel, seitdem sich auch eine Reihe von Ausstellungsräumen etabliert hat – von Soloshows bisher unbekannter, aber auch namhafter Künstler über originelle thematische Gruppenausstellungen hin zu gewagten experimentellen Projekten.

Diese Szene ist einer doppelten Pionierarbeit von Seiten der Künstler zu verdanken. Sie haben über die Jahre nicht nur eine lebendige internationale Artists' Community geschaffen, sondern sie sind auch meist die Betreiber der mittlerweile etwa 20 Williamsburger Kunsträume. Anstatt sich mit Klagen darüber aufzuhalten, wie die Galerien- und Museumsstrukturen sich von der enorm gewachsenen Kunstproduktion mehr und mehr überfordert zeigen, nahmen sie die Sache selbst in die Hand – mit Professionalität, Improvisation, Selbstbewusstsein und Risikobereitschaft. Für die Macher gibt es keine idealtypische Galerie, sondern eine Vielzahl abenteuerlicher Varianten. Das fängt schon bei den Räumen an: Kunst begegnet man im „Holland Tunnel“ in einem winzigen Gartenschuppen; „Roebling Hall“ ist eine ehemalige Fabrikhalle, „Flip Side“ das ausgeräumte Vorderzimmer einer Künstlerwohnung und „Four Walls“ eine Garage.

Im Gegensatz zu dem jüngst in Chelsea, der Westside Manhattans, einzementierten Kunsthandel und der gewollten Isolation der Galerien dort, profitieren die Williamsburger Ausstellungsräume von ihrer Nähe zu den Künstlerateliers und zum Alltagsleben. Das Viertel hat sich in den letzten Jahren enorm verjüngt und eine Art berlineske Café- und Clubkultur entwickelt. Derweil sitzen die älteren Anwohner, polnische, puertoricanische und italienische Immigranten, weiter unbeirrt auf Campingstühlen vor ihren Häusern.

Die erfolgreichste Galerie liegt im polnischen Teil und heißt Pierogi 2000. Unter der enthusiastischen und sensiblen Regie des Malers Joe Amrhein finden hier seit 1994 ungewöhnliche Einzel- und Gruppenausstellungen statt. Highlights waren Mike Ballous Multiplex-Cinema, eine Re-Installation von Robert Smithsons „Dead Tree“ von 1969 oder die politisch brisanten Enthüllungen von Mark Lombardi, der in schönen, makellosen Zeichnungen das Flechtwerk von Krieg, Geldwäsche und Wahlbetrug benennt und datiert.

Wie alle Künstler-Galeristen in Williamsburg schöpft Amrhein nicht aus dem Fundus international abgesegneter Kunst, sondern verlässt sich auf sein eigenes Gespür. Eine geniale Idee hatte Amrhein auch mit den Flat Files, Grafikschränken, die Arbeiten von über 500 Künstlern beherbergen. Weiß behandschuht kann man eigenständig durch die Mappen mit Zeichnungen, Collagen, Druckgrafik und Fotografien blättern – eine seltene Gelegenheit unmittelbarer Berührung mit dem Original. Nach einem Rotationsprinzip wird dieses beispiellose Archiv ständig erneuert, Arbeiten werden verkauft, ausgetauscht. Die Flat Files gehen gelegentlich auf Reisen und werden dann mit Werken von Künstlern vor Ort ergänzt. Nach London, Wien und Philadelphia werden sie nächstes Jahr in Berlin zu sehen sein. Halbjährlich erscheint Pierogi Press, herausgegeben von Susan Swenson, eine fantasievolle Symbiose aus Poesie, Prosa und Reproduktionen aus den Flat Files. Die Siebdruckumschläge werden von Künstlern gestaltet, für die nächste, vierte Nummer von Bruce Pierson.

Programme zwischen Utopia und Babel

Roebling Hall, eine kürzlich an die Südseite verzogene Galerie, hat sich mit konzeptuell hochinteressanten und komplexen Gruppenausstellungen wie Utopia, Dystopia und Babel einen Namen gemacht. Die Betreiber der weiträumigen Fabrik-Kunsthalle, Joel Beck und Christian Viveros-Fauné, verfolgen ein kritisches, dabei aber humorvolles Zeitgeist-Programm mit sozialen und politischen Inhalten. In der September-Ausstellung „Out of Order“ waren etwa Christoph Draegers verstörende Fotos seiner selbst gebauten, raumfüllenden Katastrophenmodelle zu sehen.

Flipside ist ein kleiner Raum, den Caroline Cox und Tim Spelios von ihrer Atelierwohnung abgetrennt haben. Neben überzeugenden, eigenwilligen Soloausstellungen entstehen viele der Projekte im Ideenaustausch zwischen Künstlern. Groupshows werden nicht von einer außenstehenden Person kuratiert, sondern Künstler wählen den Kontext für ihre Arbeiten selbst, zeigen Verwandtschaften und Kontraste auf.

Dieser Gemeinschaftsgeist ist auch jenseits der Ausstellungsräume wertvoll. In Krisensituationen reagiert das Netzwerk sofort. Zur Finanzierung der Rechtsanwälte in der Kampagne „Park statt Mülldeponie an der Williamsburg-Waterfront“ organisierten die Künstler eine Auktion im Brooklyn Museum. Und der jüngste Affront des New Yorker Bürgermeisters Giuliani gegen ebendieses Museum löste prompt ein Lauffeuer individuellen und vereinten Protests aus.

Eine Art Vaterfigur der Williamsburgszene und unermüdlicher Kommunikationsanstifter ist der Künstler Mike Ballou. Seit 1990 organisiert er mit Freunden und Bekannten im Four Walls Diskussionen über Kunst und die Welt, Musikabende, Lesungen und eintägige Ausstellungen. Videos, Dias und Filme werden von ihren Machern im Four Walls Slide and Film Club informell vorgestellt. Wer will, kann seine Arbeiten von der Band des Hauses begleiten lassen, die zu den projizierten Bildern improvisiert.

Mike Ballou ist seit April 1999 Philip-Morris-Stipendiat am Berliner Künstlerhaus Bethanien. Wenn er im Frühjahr 2000 nach New York zurückkehrt, wird sein derzeitiger Untermieter, der junge deutsche Galerist Leo Koenig, in die 30. Straße nach Manhattan ziehen. Bis dahin nutzt Koenig noch die Four-Walls-Garage für sein ehrgeiziges Programm „mit alternativem Touch“. Die einladende und Dialog inspirierende Atmosphäre hat seine kommerzielle Galerie, Leo Koenig, Inc. übernommen. Nach Einzelausstellungen etwa von Aidas Bareikis und Dara Birnbaum, deren Arbeiten er auch auf dem diesjährigen Art Forum in Berlin präsentierte, eröffnete Koenig seine zweite Galeriesaison in Williamsburg mit einem „exchange project“ mit John Weber, einem der einflussreichsten New Yorker Galeristen seit Anfang der 70er-Jahre. Beide suchen damit nicht nur eine Brücke zwischen Manhattan und Brooklyn, sondern auch zwischen den Generationen zu schlagen. Über diese Brücke gelangten etwa Arbeiten von Alleghiero E. Boetti, Hans Haacke und Michael Heizer nach Williamsburg. Zeitgleich stellte Koenig in der John Weber Gallery in Chelsea die Werke sieben junger Künstler vor.

Die Williamsburger Ausstellungsmacher verstehen ihre Aktivitäten nicht als Alternative, sondern als Ergänzung zur herkömmlichen Galerie und institutionalisierten Kunstvermittlung. Mit der Ausübung von Uneingeübtem haben sie jedoch die Basis für eine neue Selbstverständigung geschaffen und die Erneuerung des Konzepts Galerie von innen heraus, durch die Künstler selbst.

Infos zu laufenden Ausstellungen: www.BrooklynArt.com