„30 Franc für zehn Tage“

■  Resignation, Armut und ein trotziger Lehrer in der nordfranzösischen Provinz: Bertrand Taverniers Film „Es beginnt heute“ – ein Gespräch mit dem Regisseur

Kaum ein französischer Regisseur mischt sich so vehement in die Gesellschaft ein wie Bertrand Tavernier. Mit seinen frühen sozialkritischen Psychodramen („Der Richter und sein Henker“), seiner Dokumentation über den Algerienkrieg („Krieg ohne Namen“), Arbeiten über die französische Polizei („L.627“) oder gewalttätige Wohlstandskinder („L'appÛt“) wurde er so etwas wie das linke Gewissen des französischen Kinos. In seinem neuen Film „Es beginnt heute“ schildert er die desolaten Zustände in einer École maternelle, einer Vorschule in einer nordfranzösischen Kleinstadt mit 30 Prozent Arbeitslosigkeit. Taverniers Held ist der junge Vorschullehrer Daniel Lefebvre (Philippe Torreton), der mit seiner spontanen, pragmatischen Vorgehensweise immer wieder mit den örtlichen Behörden aneinander gerät. Auch der alkoholkranken Mutter eines seiner Schützlinge hilft Daniel auf unbürokratische Weise. Als die hoch verschuldete junge Frau eines Tages nicht mehr weiter weiß, eskaliert die Situation. Tavernier stellt dem Schlagwort vom Abbau des Sozialstaats die gegenüber, die bitter auf ihn angewiesen sind. Sein Film wird zur Hommage an einen, der die Klappe aufmacht, auch wenn er dafür immer wieder eins drüber bekommt. An einen, der kapiert hat, dass Utopie den Mut bedeutet, immer wieder von vorn anzufangen, auch wenn gerade alles beschissener denn je scheint: „Es beginnt heute“.

taz: Vor zwei Jahren sorgten Sie und einige Kollegen mit einem Aufruf zur Gehorsamsverweigerung für Aufruhr.

Bertrand Tavernier: Es ging um das Verbot, visumpflichtige Ausländer, die so genannten „sans papiers“, aufzunehmen. Das schien mir beschämend und ungerecht. Wir haben alle unterzeichnet, dass wir Menschen beherbergen, auch wenn sie keine Papiere haben. Das hat für ungeheuren Wirbel gesorgt, und ein paar Tage später haben 150.000 Menschen auf der Straße demonstriert, um uns zu unterstützen. Von Minister Raoult haben wir dann einen Brief bekommen, in dem stand, dass wir Filmemacher in unseren Luxusvierteln doch nichts von der Realität des Zusammenlebens verstünden und dass er uns deshalb raten würde, einen Monat in so einer Vorstadtsiedlung zu verbringen. Das Witzige daran war, dass viele junge Filmemacher, die das Manifest unterzeichnet hatten, genau dort schon gelebt haben. Ich bin mit meinem Sohn und einer Kamera nach Montreuil gegangen, fünf Monate lang, und wir drehten den Dokumentarfilm „De l'autre coté du periph' “. Er lief im Fernsehen, dann kamen die Wahlen, und Raoult wurde nicht wieder gewählt. Das war schon ein kleiner Erfolg, er war nicht mehr Minister, und ich war noch immer Filmemacher.

Was hat Sie nun in die Vorschule einer nordfranzösischen Kleinstadt verschlagen?

Es war eines Abends, beim Essen. Meine Tochter Tiffany wollte mir einen Dichter vorstellen, in den sie sich verliebt hatte: Dominique Sampiero, der dann mit ihr zusammen auch am Drehbuch mitarbeitete. Er ist außerdem seit 25 Jahren Lehrer in einer Vorschule. Ich hatte keine Ahnung, also fragte ich ihn nach seiner Arbeit. Und er erzählte mir zum Beispiel, wie er seine Schüler einmal um 30 Franc für kleine Geburtstagsgeschenke gebeten hat. „Was, 30 Franc?“, habe ihm eine Mutter gesagt. „Mit 30 Franc ernähre ich drei Kinder und mich selbst acht oder zehn Tage lang.“ Ich war ganz betroffen und durcheinander. Dann habe ich mir gesagt, das passiert nicht im Kosovo oder in Ruanda, so etwas passiert eineinviertel Stunden entfernt von Paris. Wie soll man da bloß reagieren? Also habe ich mir gedacht, ich muss die Geschichte von einem Lehrer, der mit diesen Kindern zwischen drei und vier Jahren zusammen ist, zeigen und erzählen. Die Vorschule ist der Moment, wo alle Probleme beginnen, und vielleicht ist sie der Moment, wo man auch anfangen kann, diese Probleme zu lösen.

In „Es beginnt heute“ arbeiten Sie gleichzeitig mit Laien und mit Schauspielern ...

Ich mache meine Filme immer so, es sind Spielfilme, fiktive Filme, die auch Realität sein könnten. Aber es wäre schwierig gewesen, eine reine Dokumentation über eine staatliche Einrichtung wie die École maternelle zu machen. Ein Lehrer kann dort vor der Kamera nicht sagen: „Meine Arbeit ist vollkommen idiotisch.“

Wie haben Sie mit den Vorschulkindern gearbeitet?

Das war alles sehr unkompliziert, da es sich um eine bereits bestehende Schulklasse handelte. Philippe Torreton, der Darsteller des Lehrers, hatte im Vorfeld einige Gastauftritte in der Vorschule, sodass sich die Kleinen an ihn gewöhnen konnten. Ich war immer wieder verblüfft, wie natürlich sich Kinder in diesem Alter vor der Kamera bewegen. Ich glaube, der Film verdankt ihnen die Heiterkeit, die er trotz der Schwere des Themas hat.

Glauben Sie, man kann mit Filmen überhaupt noch etwas verändern?

Da antworte ich mit einem Zitat von Jean Renoir, der gesagt hat, man müsse Filme machen, um zu verändern. Ich habe die Arbeitslosigkeit und das Elend gefilmt, und so ist das Porträt einer Gesellschaft, vielleicht sogar einer Welt entstanden. Seit dem Film gibt es ein Gesetz in Frankreich, das verbietet, dass der Strom abgestellt wird. Das Erziehungsministerium hat 1.000 neue Stellen für die medizinische Untersuchung in Vorschulen geschaffen. Aber ich halte keine Predigten. Meine Filme sprechen von der Realität, aber ihr sozialer Kontext ist für mich auch von der Dramaturgie her interessant. Wenn ich die Umgebung einer Person erforsche, ist das immer auch dramatisch.

Interview: Marianne Mösle
‚/B‘ „Es beginnt heute“. Regie: Bertrand Tavernier. Mit Philippe Torreton, Maria Pitarresi u. a., Frankreich 1999, 117 Min.