: Sex und Eintopf
Beobachtungen am Weltsuppentag ■ Von Gabriele Goettle
Die Natur in ihrer Güte behandelt alle Menschen trotz ihres ungleichen Einkommens gleich, und so müssen bei sinkender Temperatur auch die Armen frieren.
Siegfried Kracauer
Nach achtwöchiger Abwesenheit kehren wir in ein merklich verändertes Deutschland zurück. Das soziale Klima ist kälter geworden, der Bürger wirkt nervöser. Tagtäglich wird in den Medien die „Unbezahlbarkeit“ des Renten- und Gesundheitssystems verkündet, während ringsum der Reichtum explodiert. Mit kühner Erbarmungslosigkeit passen die derzeitigen politischen Sachbearbeiter unser Sozialsystem dem waltenden Prinzip an, statt es davor zu schützen. Seltsamerweise bleibt alles ruhig, aber das Gift der vollständigen Entsolidarisierung senkt sich langsam, aber sicher in die Gesellschaft. Man war noch nie so einsam wie heute. Fast alle meine Freunde, ob arm oder reich, reden mit zunehmender Panik über ihre Altersversorgung. Es rettet sich, wer kann. Wohl dem, der Grund hat, Tag für Tag den Dax zu beobachten, das ist der Konsens.
Von den Besuchern der Suppenküche beobachtet niemand den Dax. Hier hat man die „Einlagen“ bestenfalls in den Schuhen und nicht bei der Bank, wie der Antiquar zu sagen pflegt. Man ist mittellos. „Ruhe bitte, nur für einen Moment ...“, ruft ein grauhaariger Helfer ins Stimmengewirr, das daraufhin verstimmt. „Ich war heute morgen in der NSK, Nervenklinik Spandau, für die, die es nicht automatisch wissen – um elf Uhr war Versammlung der Ärzte und Oberärzte, da wurde das Problem vorgetragen. Es geht um die drohende Schließung der Anlaufstelle für entlassene Strafgefangene hier in Spandau. Das wäre eine Katastrophe. Ich lasse jetzt eine Liste rumgehen. Unterschreibt bitte. Jede Unterschrift zählt.“ Die Liste wird tatenlos am Tisch weitergereicht. Eine ältere Frau erbarmt sich und unterschreibt, langsam und mit schräg gelegtem Kopf. Man ahnt, sie unterschreibt nicht oft. „Mal was anderes“, ertönt eine feste Stimme vom Kopfende der Tafel, „was ist denn das für ein Wägelchen draußen im Garten?“ Einer der Helfer fragt konsterniert: „Wägelchen? Ich weiß von keinem Wägelchen!“ Aber der Fragende lässt nicht locker: „Na die Eisenkarre! Ganz rostig ist sie und steht draußen im Gebüsch. Ich hab Interesse, die könnte ich gebrauchen. Ich muss ja mein Feuerholz irgendwie nach Hause kriegen das ich mir auf den Baustellen zusammensuchen tu.“ Aber es stellt sich heraus, dass das begehrte Wägelchen dem Hausmeister gehört. „Schade!“, ruft der Enttäuschte aus. Er ist zahnlos, Ende sechzig und entstammt einer alten Berliner Arbeiterfamilie. Sein Leben am unteren Rand der Gesellschaft meistert er mit nachlassenden Kräften, mit einigen Schnäpsen und mit auffallender Intelligenz und Schlagfertigkeit. Die „Suppenküchenelite“ nimmt keine Notiz von ihm – man bleibt auch hier weitgehend unter sich – für die „Unterschichtler“ jedoch ist er eine zentrale Figur und genießt alle Annehmlichkeiten, die sich daraus ergeben. Man nennt ihn liebevoll „Heinze“, begrüßt ihn auf die vielfältigste Weise, bleibt plaudernd bei ihm stehen, hört zu, wenn er erzählt.
Heinz zieht seine schwarze norwegische Strickmütze tiefer in die Stirn, saugt an den Lippen und schaut mit flinken braunen Schelmenaugen zu, wie die Umsitzenden ihre Groschen auf den Tisch zählen. Seit einiger Zeit ist das Essen hier nicht mehr kostenlos. Auch wenn eine Mark an sich gesehen ein lächerlich geringer Geldbetrag ist, so trifft es viele doch empfindlich, denn diese Mark fehlt ihnen ja da, wo sie bisher genutzt wurde. Der Pfarrer, ein stets verkrampft wirkender, gepflegter Mann, bittet um Ruhe, faltet die Hände, schließt die Augen und spricht das Tischgebet. Seine geschulte Stimme beherrscht den Raum: „... und lasst uns Gott auch danken für dieses Essen. Amen.“ Unmittelbar danach verschwindet er eilends, mit freundlich reserviertem Gesichtsausdruck. Nie isst er mit. Die Tür schließt sich hinter ihm, und er ist vergessen. Draußen fährt ein Krankenwagen vorbei mit gellendem Martinshorn. „Das geht schon die ganze Zeit so“, sagt die Frau, die unterschrieben hat, „möchte bloß wissen, was da wieder passiert ist.“ Heinz hebt den Finger: „Was hier passiert ist? Ein furchtbares Unglück ist passiert! Da ist einem die Lohntüte aufs Been gefallen.“ Die gut gefüllten Teller werden ausgeteilt und Heinz fährt fort: „Da ich immerzu betteln gehn muss um jede Mark, brauche ich auch keine Lohntüte. Deshalb kann mir so ein schrecklicher Unfall gar nicht passieren!“ Er runzelt die Brauen und betrachtet angestrengt den Teller: „Hat einer mal 'ne Lupe da? Was sind denn das für winzige schwarze Dinger?“ Der Nachbar sagt: „Schmeckt wie Bratwurst.“ Heinz wendet ein: „Ist aber kaum zu sehen!“ Der Nachbar schiebt ihm eine Tube hin und rät: „Dann mach Löwensenf drauf, damit du sie besser siehst.“ Aber Heinz schiebt die Tube zurück, sagt: „Danke, scharf bin ick selber“ und beginnt Kartoffeln und Paprikagemüse mit der Gabel zu zerquetschen. Er schiebt eine Portion in den Mund, kaut lange und ruft dann ins halblaute Gemurmel hinein: „25. Weltsuppentag! Ja, ja, den gibt's wirklich! Wisst ihr überhaupt, dass die ganze Welt Suppe isst? Das Hauptgericht beim Menschen ist an sich die Suppe. Der Chinese isst schon zum Frühstück Nudelsuppe, habe ich gehört. Die Suppe ist die Hauptnahrung und nicht das Kotelett oder das Steak.“ „Bei uns war's ja auch mal nicht anders“, pflichtet die Frau bei ,und Heinz, der sich sonst eher für Zoten begeistert, fährt feurig fort: „Nee, bei uns auch nich! Ja meint ihr denn, da konnte sich der arme Arbeiter ein Steak leisten? Nicht mal ein Würstchen – und das oft und oft! Da wurde Eintopf gegessen, so wie bei anderen Völkern heute auch noch, bei Leuten, die arm sind. Brei und Suppe, das ist ja eine Familie, eine große Suppenfamilie ... und von der ernährt sich die ganze Welt. Das müsst ihr mal bedenken! Also bis auf die, die so reich sind, dass sie dreimal am Tage Steak essen. Nee, nee“, sagt Heinz und zermalmt die tatsächlich winzigen Bratwürstchen bedächtig, „Suppe muss sein, Suppe ist nahrhaft, billig und heizt.“
Der Nachbar murmelt über seinen Teller gebeut: „Na ja, wenn man nicht mehr beißen kann. Ich persönlich hab lieber was Anständiges zwischen den Zähnen!“ Heinz bläst empört die Backen auf, beugt sich vor und sagt in drohendem Ton: „Ick werde dir gleich anständig was zwischen die Zähne geben, Mann! Nee, aber im Ernst, falsche Zähne ham viele Vorteile! Das schöne an so nem Gebiss ist, dass du dir in aller Ruhe einen runterholen kannst, während drinnen im Glas 'ne Sprudeltablette dir deine Zähne putzt.“ Die Frau wirft ihm einen vernichtenden Blick zu und sagt: „Nicht bei Tisch!“ Heinz lächelt und lenkt hinterhältig ein: „Tschuldigung, bin etwas abjeschweift“, fährt aber, ohne auf die Lacher zu warten, schnell fort, „Suppe ist was Jutes – in Kriegs- und in Friedenszeiten. Und das ist mein voller Ernst, mit so was mache ich keine Scherze! Mit Suppe überlebst du, wenn's nichts zu Beißen gibt. Das habe ich im Krieg am eigenen Leibe erfahren. Ich war acht, als er anfing. Und fast vierzehn, als er aus war. Zu Hause waren wir zu sechsen und waren glücklich, wenn's Wassersuppe gab. Habt ihr 'ne Ahnung, was wir so alles gegessen haben! Davon würde hier keiner nen Löffel anrühren.“ Von der Straße her ertönt erneut ein Martinshorn. Heinz lauscht mit gequältem Gesichtsausdruck und sagt: „Schon wieder isses passiert!“ Dann isst er lustlos etwas vom Gemüse und fragt eine der älteren Betreuerinnen, ob sie ein Glas hat, für den Rest, den er nicht schafft. Sie verspricht nachzusehen, vergisst es aber im Durcheinander, das entsteht.
Aus der Kleiderkammer, die nebenan im Kirchenraum provisorisch abgehalten wird, kommt ein stämmiger junger Mann in schwarzem Leder. Er ist kurzgeschoren, trägt mehrere Ringe in Nasenloch und Ohr, tritt gegen den nächstbesten Stuhl und flucht wutschnaubend vor sich hin. „Na, na!“, ermahnt ihn ein Stammbesucher, „muss das sein?!“ Der Kurzgeschorene wirft wilde, finstere Blicke um sich und stößt keuchend hervor: „Der hat mir die Lederjacke weggeschnappt, der Dicke! Vor meinen Augen weggeschnappt!! Ich hab ihm dreißig Mark geboten, aber er rückt sie nicht raus, dabei passt sie ihm gar nicht. So ein gutes Teil kommt nie wieder rein, so eine hab ich immer schon gesucht, und der schnappt mir die weg!“ Er reißt wütend den Stuhl vom Tisch, setzt sich und stützt den Kopf in die Hände. „Nu gönne nem anderen doch auch mal was“, sagt der Stammgast. Mit kaum verhohlener Schadenfreude fügt er hinzu: „Sonst bist du es doch immer, der die besten Sachen abgreift!“ Der Geschorene knurrt böse und brütet gekränkt vor sich hin. Seit ihn die zarte, energische Frau, mit der er einige Zeit zusammenlebte, hinausgeworfen hat, ist er vollkommen zerrüttet. Insbesondere deshalb, weil die zweifache Mutter hochschwanger ist – und zwar von ihm. Er ist einer jener Männer, die das Familienleben nicht nur lieben, sondern geradezu davon besessen zu sein scheinen. Mit berserkerhaftem Eifer hatte er „seine“ kleine Familie hier stets umsorgt, dies organisiert, jenes geschenkt bekommen. Nie sah man ihn entspannt sitzen und essen. Entweder maßregelte er den kleinen Knaben, der auch nicht still sitzen mochte beim Essen, oder es schrie der Säugling und musste beschwichtigt werden. Die Mutter der Kinder hingegen wirkte immer ruhig, war Herrin der Lage und ging die Dinge mit freundlicher Zielstrebigkeit an. Offenbar war ihr die hektisch vorgetragene Vaterrolle zu viel geworden.
Der „Vater“ a.D. jedenfalls sitzt nun da wie der vertriebene Sohn. Heinz spricht immer noch über die Suppe und davon, dass ein jeder selbst auslöffeln muss, was er sich eingebrockt hat. Auf die Frage, ob er Kinder hat, ruft er empört aus: „Kinder? Icke? Meine Kinder, die blieben im Sack! Ick werde doch in so eine Welt keine Kinder setzen. Nee.“ Deklamierend und mit melodischer Stimme sagt er: „Lass sein oder lass nicht sein, das ist hier die Frage.“ Mitten ins Gelächter hinein öffnet sich die Tür und herein tritt, wie auf ein Stichwort hin, die hochschwangere Mutter. Sie hat eine rosige Gesichtsfarbe, wirkt unbefangen und gelassen. Dennoch geht eine unmissverständliche Strenge und Entschiedenheit von ihr aus, gemischt mit seltsamer Lieblichkeit. All das schimmert durch die sakrosankte Aura, die sie nun hat und vor der Gelächter, Lärm und Zote sofort kleinlaut werden. Sie setzt sich zum Verstoßenen. Erlaubt, sie und die Kinder für ein Stündlein zu umsorgen. Er bringt Essen und Getränke, mit glühendem Eifer und finsterem Blick.
Nachmittags treffen wir den Antiquar im „Seeling“ in Charlottenburg. Er überreicht mir ein dickes Kuvert, voll mit diversen Zeitungsausschnitten, die er in unserer Abwesenheit für uns gesammelt hat. Wir reden ein wenig über den Tod unseres Hundes, doch der Antiquar lenkt das Thema bald hin zu seinem eigenen mangelhaften Gesundheitszustand. Er präsentiert ein mehrseitiges fachärztliches Untersuchungsergebnis, in dem ich in der Eile nur etwas von „chronischer Bronchitis“ lesen kann, weil er es rasch wieder einpackt. Er wirkt etwas nervös und entmutigt. Bruno, der guter Dinge ist wie immer, ruft uns an den runden Tisch, wo noch Stühle frei sind. Auch eine traurige Türkin mit schwarzen Locken sitzt dort. „Hier ist die Luft besser, gleich neben der Tür“, sagt Ralf, ein nachdenklicher Mann und scharfer Beobachter mit schöner Stimme. Und auch jener Schachspieler sitzt hier, der aussieht, als sei er einem Roman Dostojewskis entstiegen. Mit seinem meist etwas melancholisch düsteren und auch leidenschaftlichen Wesen fällt er nur deshalb wenig auf, weil er zugleich außergewöhnlich sanftmütig ist. Manchmal verkommt er ein wenig. Aber heute trägt er eine teure helle Wildlederjacke und ist erstaunlich heiterer Stimmung.
Auf meine Frage, ob er unsere Ansichtskarte bekommen hat, sagt er mit formvollendeter Höflichkeit und ironischem Unterton: „Allerherzlichsten Dank auch noch, ich hätte es nicht vergessen.“ Nach einem Atemzug fügt er überraschend hinzu: „Schon desehalb nicht, weil es die einzige Karte war, die ich überhaupt bekommen habe in diesem Jahr.“ Alle lachen haltlos, Bruno ruft aus: „Ich auch, bei mir genauso!“ Für eine Sekunde blitzt allen durchs Bewusstsein, dass sie nur noch pro forma, quasi zum Zwecke der Abspeisung, an einem Rest vom sozialen Leben teilhaben. Dafür gibt es natürlich viele Indizien, aber nicht alle kommen so heimtückisch daher. Darum muss heftig gelacht werden. Doch der Antiquar bohrt in der Wunde: „Es wundert mich, dass sie überhaupt noch zustellen.“ „Es ist ja nichts zuzustellen, das ist es ja!“, sagt der Schachspieler, „ich lebe vollkommen unbehelligt in meiner kleinen Wohnung. Mit eigener Toilette, eigenen Bedürfnissen, eigener Sexualität ... was soll ich noch aufzählen?!“
Der Antiquar stößt, atemlos vor Dringlichkeit die Frage hervor: „Haben Obdachlose Sex? Nun sagt mal!“ – „Woher sollen wir es wissen?“, fragt der Schachspieler leicht verwundert, „wir sind nicht obdachlos.“ Ralf vermutet, dass sie eher keinen haben, doch Bruno ruft: „Doch, doch!“ und die Türkin sitzt mit unbewegtem Gesicht dabei, raucht und schweigt. Sie versteht und spricht sehr gut Deutsch. Der Antiquar kramt in den mir zugedachten Zeitungsausschnitten und entfaltet eine Zeitungsseite: „Seht, das ist er, Lee Stringer, ein Neger. Elf Jahre war er obdachlos und hat im Bahnhof Central Station in New York gehaust, in einem Kabelschacht unterm Gleis. Hier, die Berliner Zeitung hat eine ganze Seite über ihn berichtet, also der sagt 'Ja‘, aber wie und was, das erfährt man leider nicht. Jedenfalls hat er jetzt ein Buch geschrieben über sein Leben und wurde berühmt.“ – „Dann hat er vielleicht jetzt auch kein Problem mehr mit diesen Dingen“, sagt der Schachspieler. Ralf fügt hinzu: „Wer weiß ... Jedenfalls ist die Sache nicht so einfach, besonders nicht bei Kälte.“ Bruno, der eine kalte Wohnung hat, weil er aus Sparsamkeitsgründen die Heizung abstellt, sagt derb und angeberisch: „Ach was, Handbetrieb geht immer!“ „Ja, ja“, Ralf winkt ab und erzählt in ruhigem Tonfall: „Ich traf heute am Bergheimer Platz einen, der hatte die Nacht im Grunewald verbracht im Freien. Nachts kamen die Wildschweine nachsehen, was da am Boden rumliegt. Und morgens, als er aufwachte und aus seinem Schlafsack herauskroch, um zusammenzupacken und schnell ins Warme zu kommen, da war sein Rucksack festgefroren am Boden. Er hatte Mühe, ihn los zu bekommen. Mittags, als ihn ihn traf, war immer noch eine Schicht Rauhreif zu sehen auf dem Rucksack. Während wir drinnen beim Essen saßen ist alles langsam ein wenig aufgetaut. Dieser Mann jedenfalls, das scheint mir ziemlich sicher, hat keinen Sex momentan – ich übrigens auch nicht. Es herrscht Notstand.“ Alle schweigen. Der Schachspieler räuspert sich. Er, der meist schweigt und Schach spielt, setzt an zu einer längeren Rede: „Es ist doch so mit der Sexualität: Je weiter man in den sozialen Abgrund gerät, desto weniger hat man auch menschliche Beziehungen, desto weniger hat man ein Sexualleben. Ein Mensch ohne Status kann in dieser Gesellschaft nicht geliebt werden, schon gar nicht ein Mann.“ – „Aber die ganzen Herren mit Geld und Status, die oben sind, die sind doch angeblich ganz impotent ...“ wendet der Antiquar ein. „Kann sein“, sagt der Schachspieler, „für die gibt es aber tausend Möglichkeiten, sich an anderen Dingen zu beglücken. Im sozialen Abgrund steckst du fest, jeder weiß, du bist selber schuld. Wenn du arm bist und krank und alt, dann hast du keine Sexualität mehr, dann lebst du weitgehend ohne Sex. Und schlimmer noch, die Normalwelt findet es ekelerregend, wenn Alte, Kranke oder auch Arme Sex hätten.“ Zwei der Sozialarbeiter bitten kurz um Ruhe. Sie stehen bereits im Mantel an der Tür und rufen dringlich dazu auf, dass wenigstens ein paar Mann mitkommen zur Bezirksverordnetenversammlung: „Leute, es geht bei der Debatte auch um eure Einrichtung hier!“, doch ablehnendes Gebrummel ertönt, niemand ist bereit. Man lässt die beiden alleine gehen.
Bruno, dem das irgendwie peinlich ist, murmelt: „Ich muss ja zum Bäcker – und außerdem hat das sowieso keinen Zweck, die da oben machen doch immer, was sie wollen!“ Die Türkin verabschiedet sich, der Antiquar scheint nachzusinnen, und der Schachspieler setzt seine Rede fort: „Jeden Tag ist in den Meldungen die Rede von Gewaltverbrechen. Ich habe keine Angst vor Kriminellen und Mördern, ich habe Angst vor unseren Politikern und vor Leuten zum Beispiel, die Ärzte sind und dergleichen. Das sind die gefährlichsten Leute überhaupt, weil sie gewissenlos sind. Weil sie über Macht verfügen – auch über uns. Ich fürchte mich nicht vor Messerstechern; ich fürchte nur die Mächtigen und Reichen. Sie organisieren alles – auch dieses Essen hier und so weiter. Wunderbar! Jeder arme Inder würde finden, mir geht es herrlich. Und es ist auch so, es geht mir gut. Aber ich bin eben ein armer Deutscher, warum eigentlich soll es mir da gut gehen? Oder wirke ich vielleicht nur so, als ginge es mir gut? Die Struktur der Reichen ist Gesetz geworden, das heißt, der Dumme, der nicht mitkam, der ganz unten ist, der wird gefüttert und ausstaffiert. Und behandelt, wenn nötig. Er kommt niemals da raus. Wir haben hier eine gefährliche Gesellschaft. Das Elend sieht nach nichts aus, jedenfalls nicht nach Elend. Die Kranken und Alten liegen in schneeweißen Betten, umgeben von Pflegeteufeln, die unentwegt die Spuren der Qualen beseitigen. In Indien hat der Arme das Recht auf der Straße, mitten im Dreck, an Hunger und Krankheit zu krepieren. Aber wir, wir müssen unsere Armut verstecken, hinter einem genau bemessenen Hilfssystem, weil die Reichen und Mächtigen zu schwache Nerven haben. Denn es könnte ja sein, dass wir sie sonst zum Mitgefühl nötigen, zum schlechten Gewissen oder zu gewaltsamen Lösungen. Armut ist was, was bei uns verfolgt wird – mit Sozialhilfe, Suppenküche und Kleiderkammer. Nackte Armut ist nicht erlaubt. Wir sind dazu verdammt. Wir müssen so tun, als wären wir gar nicht arm. Weil wir den Mund halten, sieht man anderswo unsere schlechten Zähne nicht. Aber wenn wir unsere Portion nicht essen, dann kommt der Onkel Doktor. So fängt es an, so hört es auf. Das hat gar nichts mit Freiheit zu tun, mit Humanität oder was sonst noch behauptet wird. Wir wissen das. Wir tragen das schöne Hemd der Reichen und ihre schöne Hose. Aber wir haben nicht ihren Wohlgeruch, nicht ihre Lebens- und Liebesgewohnheiten, wir kehren nicht in ihre schönen Wohnungen und Häuser zurück nach ihrem anstrengenden Arbeitstag. Wir tragen nur ihre Lumpen und essen ihre Suppe.“
Am Tisch herrscht leichte Schläfrigkeit. Auch der Schachspieler wirkt nun so, als sei er der Dinge müde. Bruno erhebt sich gähnend und verkündet, zur Bäckerei aufbrechen zu wollen. Es sind dort die gespendeten Kuchenstücke, Brötchen und Brote abzuholen, die von der Bäckerin aussortiert wurden. Der Schachspieler beschließt zum Duschen zu gehen, und auch Ralf verschwindet, unter Hinterlassung seines Gepäcks. Ein alter Mann tritt an den Tisch mit einer Schachtel Margarine von der billigsten Sorte in den Händen. „Ich habe mal 'ne Frage“, sagt er und hält dem zunächst Sitzenden die Schachtel hin, „die wurde vorhin ausgeteilt, in der andern Stelle da, und ich hab hinten geguckt, es steht September drauf. Nu ham wir aber November?“ Der Antiquar schiebt die Brille auf die Stirn, studiert das Datum und sagt mild: „Ach, da stand früher auch nie was drauf, und es ist auch keiner krank geworden. Das sind nur die Vorschriften, die hier befolgt werden ...“ – „Aber wie lange kann ich das noch essen, bevor es schlecht wird?“, fragt der Mann, öffnet den Deckel der Schachtel und schnuppert misstrauisch am Inhalt. Er hält sie dem Antiquar hin, der ein wenig zurückweicht und rät: „Ich weiß es auch nicht, vier bis sechs Wochen, ein Viertel Jahr ... länger vielleicht nicht, aber wegschmeißen wäre vielleicht besser?“ Der Mann schließt energisch den Deckel und weist dieses Ansinnen von sich: „Nicht doch! Wenn's noch gut ist, dann wird gegessen ... oder auch zum Braten.“ Ella, die gerade kam und den letzten Satz gehört hat, sagt: „Die darf man nicht erhitzen, die Margarine. Das sind künstliche Fette, die werden dann schädlich!“ Der Mann versenkt die Margarine in seinem Plastikbeutel und murmelt: „Nur auf die Stulle ruff, ja, verstehe, danke.“ – „Und dann in den Kühlschrank damit!“, ruft ihm der Antiquar nach.
Der Schachspieler kommt mit feuchtem Haar und scharf rasiert zurück. An der rechten Wange hat er sich ein wenig geschnitten. Er nimmt Platz und spricht nicht mehr. Ella legt den Mantel ab. Er strahlt winterliche Kälte aus. Sie trägt das weiße Haar nur kurz geschnitten, hat eine Art Pagenfrisur, die ihr gut steht. Sie wirkt dynamisch und verjüngt. Wirkt wie eine Rentnerin in einer Reisegruppe. Seltsam, dass die Ostdeutschen – besonders die Frauen – mit dieser Situation wesentlich besser zurecht kommen. Sie kondoliert mir zum Hundetot und berichtet: „Ich hatte unglaubliches Glück – es gab doch diese Scherereien mit meiner Wohnung – und nun habe ich was gefunden. Ein Appartement. In einem Wohnhaus für Senioren. Man darf Hunde halten. Ohne mein ,Wölfi‘, da zieh ich nirgends ein!“ Sie beugt sich ein wenig unter den Tisch und klopft ihrem Hund die Flanke. „Vom Igel reden wir gar nicht“, sagt sie kichernd. „Es ist alles bestens. Fahrstuhl sogar. Nur ein Problem sehe ich auf mich zukommen. Alles wird etwas kleiner sein, leider. Deshalb fürchte ich den Umzug.“ Der Antiquar, der weiß, worin das Problem besteht, rät sadistisch: „Wegschmeißen! Du musst alles wegschmeißen, was überflüssig ist. Dann hast du Platz.“ In Ellas Zügen spiegelt sich die leise Verzweiflung wider. Mit komischem Ernst ruft sie aus: „Das ist etwas, was ich nicht verstehe im Westen. Früher, als es mir sehr viel besser ging, ökonomisch, da hatte ich viel weniger als heute. Und heute ist es genau umgekehrt. Ich habe eigentlich kaum was, aber ich ersticke in Sachen!“ Der Schachspieler lächelt mit geschlossenen Augen stumm in sich hinein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen