"Blavatzkys Kinder" - Teil 23 (Krimi)

Teil 23

* * *

Der Weg sah einsam und dunkel aus. Sie markierten den Abzweig auf einer Karte. Das Baby lag in einem Brutkasten aus Kunststoff. Es stieß mit der Zunge an den Gaumen. Durst. Schmerzen. Der Gaumen war trocken, die Haut im Mund spannte. Es holte Luft, die kleine Lunge füllte sich, der Brustkorb hob sich. Kleine Rippen schimmerten durch die Haut. Statt eines Schreis drang nur ein Ächzen aus dem kleinen Körper, als die Luft entwich. Es nahm alle Kraft zusammen und versuchte es noch einmal.

Mit der Übelkeit und dem Schwindel legte sich eine Zeitlang Dunkelheit über seine Augen. Die Schwärze bekam weiße Flecken, die größer wurden und über seinem Kopf zusammenwuchsen. Der Versuch zu schreien hatte seinen Mund schmerzhaft ausgetrocknet. Sein Hals brannte.

Das winzige Kind weinte. Seine Sicht verschwamm. Etwas Feuchtes lief über seine Wangen. Der Geschmack im Mund veränderte sich. Der Speichel bekam alle paar Stunden einen eigenartigen metallischen Geschmack, der sich über die Zunge im Mund ausbreitete. Ein inzwischen vertrauter Reiz. Nach einer Weile wurden die Schleimhäute feucht. Der Schmerz ließ nach und auch der Hunger. Es wurde ruhiger und schlief endlich ein.

Die Flüssigkeit in der Infusionsflasche über seinem Brutkasten tropfte stetig wie der Sekundenzeiger einer Uhr. Die Meßgeräte zeigten regelmäßige Herzschläge an. Aus den elf weiteren Behältern, in denen Frühgeborene und einige Monate alte Säuglinge lagen, waren leise Geräusche zu hören, leichtes Schmatzen und Röcheln. Keines der Kinder weinte laut. Wie sollten sie auch? Allen waren die Stimmbänder durchschnitten worden.

* * *

Sie breiteten die vier Landkarten, die aneinander anschlossen, auf dem größten Tisch einer Szenekneipe in Regensburg aus. Robert fuhr mit dem Finger eine Linie entlang.

„Wenn der Lieferwagen an dieser Stelle abgebogen ist, gibt es nur wenige Möglichkeiten, wo er geblieben sein könnte“, sagte er.

Miriam zeichnete mit dem Bleistift einen Weg nach. „Da. Siehst du? Nach einigen Kilometern stößt die Waldstraße auf ein winziges Dorf. Hier etwa. Dieses Kaff hat nur rund zwanzig Häuser. Dann führt die Waldstraße oder...“ Miriam studierte die Legende der Karte, „...eine Art Schotterstraße im spitzen Winkel auf eine asphaltierte Straße, über die man nach einiger Entfernung auf eine Landstraße und schließlich auf die Bundesstraße kommt.“

„Ich seh's. Und?“ Robert verstand nichts. Miriam pochte auf eine bestimmte Stelle auf der Karte.

„Mensch, schau doch mal. Hier, genau dort, wo die Straße durch das Dorf diese spitze Kurve nimmt, ist ein Weg in den Wald angedeutet, der ein paar Meter weit hineingeht und dann abbricht. Und wenn das nicht so ist?“

„Ja, was wenn nicht?“

Miriam deutete mit einem Stift auf eine andere Stelle, die rund zehn Kilometer weit entfernt lag.

„Wenn wir uns die Sache von hier aus ansehen, kommen wir auf eine andere Landstraße, die nach Norden führt. Von da aus geht ein befestigter Waldweg in vielen Schleifen auf ein großes Gebäude zu. Scheint Großgrundbesitz zu sein. Siehst du, hier ... Dieser unterbrochene Weg aus dem Dorf würde praktisch auf die Rückseite des Gebäudes stoßen. Zufall?“

„Zu weit?“ zweifelte Robert.

Miriam nahm die Karte, auf der die Gebäude verzeichnet waren, und ging an die Theke. Dort stand der Geschäftsführer der Kneipe, Ferdi. Er war mittelgroß, trug schwer an einem mittelprächtigen Bierbauch, hatte leicht gelocktes, schulterlanges Haar, das er zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und trug ein rot-blau kariertes Flanellhemd und eine etwas ausgebeulte Lederhose. Sein Gesicht war breit, ein kleiner goldener Ohrring, kreisrund, der Bart etwa vier Tage alt. Ferdi war ein guter Freund von Max und den anderen. Als Miriam mit der Karte in der Hand auf ihn zukam, hörte er auf, hin und her zu rennen und Gläser aufzuräumen. Sie deutete auf das Gebäude und fragte ihn, was das sein könnte.

„Eure Karte ist viel zu groß. Meine hat ihre roten und gelben Straßen, Wald ist grün, die Orte rot und basta.“ Ferdis Zeigefinger schoß auf die Bundesstraße zu. Die kannte er. So. Wo lag im Verhältnis das Gebäude? Er drehte die Karte.

„Angie!“ brüllte Ferdi in die Küche, wo die Kellnerin mit dem Koch quatschte. „Angie, komm doch mal.“

Sie stieß die Küchentür auf. „Ja?“

„Das ist doch der Lebenshof.“

„Ja, klar. Das ist ein toller Hof.“ Sie wandte sich Miriam zu. „Es ist eigentlich ein Schloß. Die züchten Pferde dort. Und sie machen Vortragsveranstaltungen und Konzerte. Das einzige, womit sie uns manchmal ärgern, ist, daß sie uns alle Lebensmittel bei den biodynamischen Landwirten wegkaufen. Wenn wir nicht den Hof von Max und Co. hätten, müßten wir weit fahren, um an unser Zeug zu kommen.“

„Haben die einen schwarzen Lieferwagen?“

„Ach. Der schwarze Lieferwagen. Den Floh hat euch Max ins Ohr gesetzt. Nein, ich habe noch nie einen schwarzen Lieferwagen gesehen“, sagte Ferdi.

Angie schüttelte den Kopf und ging zurück in die Küche.

Wenn der Transporter nicht durch das Dorf gekommen und dann in einem großen Bogen auf die Landstraße zurückgefahren war, wohin dann? Dann blieb nur der Weg durch den Wald. Ein schwarzer Lieferwagen konnte sich in so einer einsamen Gegend nicht in Luft auflösen.

Fortsetzung folgt