Ein Mann für jeden Fall

Er will die Welt verbessern und ist süchtig nach Menschen. Dabei schwebt Michel Friedman, der Jude in der Christenunion, Anwalt und Frischzellenkur seiner Partei, ein wenig über den Dingen.  ■ Von Thorsten Schmitz

Einen Tag und eine Nacht braucht Michel Friedman bis an den Strand von Tahiti. Unter Kokospalmen ist er Normalbürger, ein Traum, drei Wochen im Jahr. Anrufen darf ihn niemand, aus Deutschland schon gar nicht. Und wenn er dann am frühen Morgen im örtlichen Rundfunk den Radiosprecher unverschämt nachlässig die Zeit annoncieren hört (es ist jetzt acht Uhr und ein paar Minuten), weiß er, es gibt ein Leben ohne Handy, Hatz und Händeschütteln.

Er lebt es nur nicht.

Seit zwei Wochen geht Friedman nun schon mit der These „Wohlstand ohne Kultur ist gefährlich“ hausieren. Plötzlich war dieser Satz da. Menschen mit Geld und ohne Geist kann er nicht ausstehen. Immer wieder taucht der Satz auf, egal, wo und vor wem Friedman redet. An dem Tag, an dem die CDU 50 Jahre CDU zelebriert, spendet er den 178 Mitgliedern des Potsdamer CDU-Kreisverbandes rhetorischen Beistand in ihrem Bemühen um Gewichtszunahme im rot regierten Brandenburg. Wohlstand ohne Kultur ist gefährlich, erfahren die geringverdienenden oder arbeitslosen Potsdamer vom Tahiti-Urlauber. Wer sich nur aufs Geldverdienen konzentriere, nehme den Frust der „Jugend“ erst wahr, wenn sie auf Ausländer losgehe. Frank und frei und furios spricht Friedman vor Publikum. Für seinen Auftritt in Potsdam hat er sich beim Brustschwimmen im Swimmingpool des Interconti zwei Stichwörter ausgesucht: SED und Kultur. Festgehalten werden seine Reden nur in den Blöcken von Journalisten. Der brillante Rhetoriker, der sechs Sprachen spricht, braucht keinen Text.

Der Mann mit der Sicherheitsstufe Kohl findet es protzig, mit der Limousine vorzufahren. Er kommt zu Fuß, mit dreien seiner insgesamt 21 Bodyguards. Geraden Rückens erträgt Friedman, der an diesem Mittwoch bereits seit zwölf Stunden mit Politikern, Prominenten und Portiers Worte gewechselt und eine Currywurst am Ku'damm verputzt hat, die Begrüßung – und insistiert gewohnheitsmäßig: „Nicht Michel, Michähl, bitte!“ Er nestelt an Wangen, Kinn und Krawattenknoten, reibt mit dem Zeigefinger die Nasenspitze. Vielleicht beamt er sich in diesem Moment an Tahitis Strand. Die tiefliegenden Lider suggerieren Schläfrigkeit, womöglich stimmt das aber nicht. Friedman ist wie ein Schwamm; er interessiert sich für alles. Muß er auch, denn „Langeweile finde ich schlecht“.

Dann, endlich, darf er reden. Er taxiert jedes Augenpaar im Raum, erringt, wahlweise pianissimo oder fortissimo, bedingungslose Aufmerksamkeit. Seine Rede ist gespickt mit luziden Fragen („Warum engagieren wir uns?“), Floskeln („Ich sage in aller Deutlichkeit...“), und er hat einen Hang zu gestelztem Deutsch. Und wenn er nachdenklich rüberkommen will, liegt der Kopf sacht rechts. Im stimmbrüchigen Singsang spricht er von der „festen Überzeugung“, der er ist. Als klänge Überzeugung allein noch zu lose.

Friedman ist süchtig nach Menschen, falls man so sein kann. Reden, streiten, diskutieren, das gibt ihm das Gefühl, dicht am Leben zu sein. Wenn es stimmt, daß Kinder von Holocaust-Überlebenden getrieben sind von dem diffusen Empfinden, gutzumachen, was man ihren Eltern in den Konzentrationslagern angetan hat, lebt Friedman für drei. Für sich, seinen Vater Paul, seine Mutter Eugenie. Alle drei wären ohne Oskar Schindlers Hilfe nicht am Leben. Sohn Friedman findet das Leben „viel zu kurz“. Zwangsläufig? Traurig wird er, wenn „ich etwas nicht bewegen kann“.

Die Christlich-Demokratische Union hält der „bewußte“ Jude für die einzig moderne Volksvertretung, warnt aber ohne Übergang davor, CDU-Politik als Allheilmittel zu verkaufen. „Ich rede mit den Menschen nicht in der Hoffnung, einen weiteren CDU-Anhänger zu bekommen, ich rede mit ihnen, um zu lernen.“ Friedman ist die Frischzellenkur für seine Partei. Wenn es ihm schwerfällt, „wir“ zu sagen, „sage ich eben ich“. Schwarz-Grün hält er für „faszinierend“, die Ökos seien „inhaltlich voll ausgeprägt“.

Dem ostdeutschen Auditorium erteilt der 39jährige leise Lektionen in achtloser Weltmännischkeit. Ist das nicht phantastisch? Jeder Potsdamer könne im geeinten Europa nach Lyon oder Mailand ziehen und dort arbeiten. In solchen Momenten, wenn ihn die Lebenslust erfaßt, ist er Lichtjahre vom Publikum entfernt. Und ganz nah bei sich.

Anderntags gruppiert sich das einige Europa um ihn in der Akademie der Künste. Die Wahl-Italienerin Margarethe von Trotta, der Londoner Künstler Damien Hirst, Blixa Bargeld und Peter Lilienthal, Dennis Hopper und Rebecca Horn parlieren über „Die Kunst des Werbens“, Thema der diesjährigen Sommerakademie. Dazu fallen auch Friedman ein paar kluge Sätze ein, inklusive „Wohlstand ohne Kultur...“ Die Künstler gucken unkonzentriert, aber das kann auch an der Hitze liegen. Mit weniger Luft zwischen den Wörtern wäre auch sein momentaner Lieblingssatz entbehrlich gewesen. Auf dem Weg zum Mittagsmenü stutzt ihn ein Freund zurecht, Max-Chefredakteur Andreas Wrede. „Mensch, Michel, mußt du so staatstragend reden?“ Friedman schluckt die Schelte: „Was war denn so staatstragend?“ Wrede umarmt ihn. Der Freund hält Friedman für einen „dieser aussterbenden Spezies, die glaubt, sie könnte die Welt verändern. Das macht ihn rastlos. Und so unerbittlich zu sich.“ Michel, der ehrenamtliche Weltverbesserer.

Seit November trifft sich Friedman monatlich mit Helmut Kohl und dessen Entourage in der Bonner Parteizentrale – und identifiziert sich doch nur zu „51 Prozent“ mit der CDU. Böse Frankfurter Zungen behaupten, er habe eigentlich SPD-Mitglied werden wollen. Dort aber sollte er unten anfangen. So sei er zum damaligen Oberbürgermeister Wallmann gegangen, der seine Attraktivität im doppelten Sinne zu schätzen gewußt habe, und Friedman sei Stadtverordneter geworden, ohne jede Ortsbeiratssitzung.

Manchmal versteht er selbst nicht, daß er in der CDU weilt. Willy Brandt hat er immer geschätzt, sagt er, und wenn Frankfurts Neu-OB Petra Roth in ihrer Antrittsrede den „Asylkompromiß“ gutheißt und „weiterverfolgen“ will, sind es Dany Cohn-Bendit, Micha Brumlik und „Mischu“ Friedman, die nicht klatschen.

Irgendwann hat Friedman deshalb beschlossen, offen für alles und jeden zu bleiben. Das macht ihn soft. Ihm geht es nicht darum, wie gut er was macht, sondern „wieviel ich lerne, um es besser zu machen“, sagt er nach der Stadtverordnetensitzung, in der Kantine des Frankfurter Römers. Er stützt beide Hände auf den Hals einer Mineralwasserflasche, das Gesicht wie von innen erleuchtet. „Ich bin auch heute noch nicht reif.“

Es bleibt sein Geheimnis, wie man täglich reifen kann unter dieser höllisch hektischen Termindiktatur. Björn Engholm hatte da auch seine Zweifel. Friedman, fand er nach einem mehrstündigen Tête-à-tête, fehle „die Sekunde des Zögerns, die Reflexion anzeigt“, das „nachdenkliche Vielleicht“. Das Multitalent sei „einen Hauch zu perfekt“.

„Vielen bin ich ein Rätsel.“ Wenn Friedman grundsätzlich wird, stimmt fast immer fast alles. Die ihn nicht kennen, finden ihn deshalb „aalglatt“, „schleimig“, „karrieristisch“. Ein Politiker, der italienische Designeranzüge trägt, die Haare lang und gegelt, Sonnenstudioteint und manikürte Fingernägel – da kann etwas nicht stimmen. Mit Aversionen kann Friedman leben, solange er glaubt, sich treu zu bleiben. „Ich wechsele meine Meinung nicht wie Visitenkarten.“ Manchmal, er zeichnet ein landendes Flugzeug in die Luft, kurieren ihn die Eltern von Höhenflügen.

Friedman unplugged. Man habe ihn in den Bundesvorstand gewählt, weil mit ihm „Liberalität“ verbunden werde, „Modernität“, „Internationalität“, weil „ich ein unangepaßter Mensch bin“, weil „ich Politik ehrenamtlich betreibe“. Und auch „weil ich ein Jude bin“. Sein großes Verdienst ist es, Juden wieder zu einer gesellschaftlichen Kraft in der Politik gemacht zu haben. Bis es soweit war, mußte der Franzose Rechenschaft ablegen für Israels Innenpolitik und Nichtjuden erklären, daß die Jüdische Gemeinde „auch hell ist und licht und nicht nur der Holocaust“. Zuweilen indes fühlt er sich davon überfordert, die moralische Instanz einer Nation zu werden.

Im Streit ums Holocaust-Denkmal wollten Bubis und er nie Meinungsführer werden, aber die hilflose nichtjüdische Öffentlichkeit habe sie dazu gedrängt. Friedman findet die Namenskaufidee „geschmacklos und makaber“. Ein SFB-Reporter will genau das von ihm hören. Friedman eilt vom Sendestudio des Hessischen Rundfunks, wo er gerade seine Talk- Show zum Thema Kirche absolviert hat, ins benachbarte Studio. Der SFB will eine jüdische Meinung, aber die gibt Friedman nicht. „Lassen Sie uns sachlich bleiben, sonst wird das Denkmal nie errichtet.“ Kurz danach, beim Abschminken in der Maske, fordert Friedman unplugged: „Lea soll nachgeben.“

Lieber wirkt er im Hintergrund, nie möchte er Minister oder Dezernent werden. So kann man ihn auch nicht haftbar machen für Fehler. Politik sei außerdem nicht alles. „Ich kann auch loslassen.“ In zwei Jahren wird er seinen Stuhl räumen im Stadtparlament.

Die einzigen, die ihn dann noch in Frankfurt halten, sind seine Eltern. Sie sind seine Heimat, denn eine andere „besitze ich nicht“. Er besucht sie täglich, es geht ihnen nicht gut. Er läßt sie teilhaben an seinem Leben in einem Land, zu dem er eine „ambivalente Haltung“ hat. Gibt ihnen „ein Stück Lebenssinn und Lebenslust“ zurück. Und irgendwann, das ist sein Traum, wird Michel Friedman losreisen. Nicht nach Tahiti. „Ich beneide Menschen, die mit großen Koffern eine Schiffsreise antreten und nie wissen, wo und wann man ankommt.“