Zielgruppe: moderne Zugvögel

Vor drei Tagen feierte der „Aufbau“ seinen 65. Geburtstag. Die berühmte deutsch-jüdische Zeitung aus New York versucht, das allmähliche Wegsterben ihrer ursprünglichen Klientel zu überleben: Die Enkel der Shoah-Flüchtlinge können häufig kein Deutsch und halten sich das Blatt kaum noch. Nun versucht die neue deutsch-israelische Herausgeberin Chaja Koren, auch ein Lesepublikum in Deutschland zu erschließen Von Hans-Ulrich Dillmann

Wenn nicht unmittelbar Hilfe gefunden wird“, schlugen Jerry Brunell und Fritz Weinschenk in New York Alarm, „wird diese große kulturelle Institution an der Schwelle zu ihrem 65. Geburtstag aufhören zu existieren.“ Knapp ein Jahr vor dem Erreichen des Rentenalters versuchte die deutschsprachige jüdische Zeitung Aufbau im Januar, angesichts eines wachsenden Defizits mit einer Spendenkampagne das Aus abzuwenden. Dabei waren finanzielle Krisen ständige Begleiter von America's only German-Jewish Publication. Seit immer mehr in den USA lebende deutschsprachige JüdInnen in die Jahre kamen, bedeutete jede Todesanzeige meist auch eine Abbestellung der Zeitung.

„Der Aufbau darf nicht sterben“, kommentierte etwas hilflos Arnold Greissle-Schoenberg, Enkel des österreichischen Komponisten, die angekündigte Schließung der Zeitung. Die hundertjährige Doris Hilfreich, die von Wien nach Amerika gekommen war, legte ihrem Solidaritätsschreiben gleich einen Scheck bei: „Ich wünschte, ich könnte mehr tun.“ Bill Schweisheimer gab ein Stück Familiengeschichte preis: „Mein Vater las den Aufbau zeit seines Lebens, bis er 1994 im Alter von 94 Jahren starb. Seine Schwester, meine Tante Selma Hausmann, jetzt 93, liest ihn noch immer.“

Der Aufbau wurde schließlich doch noch gerettet. Die 1954 in Israel geborene und abwechselnd in Frankfurt am Main und Miami lebende Verlegerin Chaja Koren wollte es nicht zulassen, dass die Zeitung, mit der auch sie aufgewachsen war, eingestellt werden sollte. Sie bot sich den Herausgebern als Käuferin an. Verlegerische Erfahrungen hat sie: In Frankfurt leitet sie den Dr. Orgler Verlag, in dem hauptsächlich jüdische, hebräische und israelische Literatur publiziert wird; und seit Jahren gibt sie erfolgreich die Kalenderreihe „Jüdische Frauen im Spiegel der Geschichte“ heraus.

Nun ist Chaja Koren auch für den Aufbau verantwortlich. Ein schwieriges Unterfangen, denn das ehemalige Flaggschiff der deutschsprachigen jüdischen Nachkriegspublizistik hat den Ruf eines behäbigen Tankers, dessen Eigner über Jahrzehnte hinweg nicht gemerkt haben, dass der Rumpf schon längst nicht mehr den technischen und journalistischen Erfordernissen angemessen war.

Altbacken sei er, und das nicht nur im Aussehen, stöhnten Kritiker. Ein Nostalgieblatt, in dem die Lebenserinnerungen von Schoa-Überlebenden dominieren würden, nölten Andere. Jüdischkeit erschöpfe sich in der Zeitung im beschriebenen Folkloreambiente eines osteuropäischen Schtetl, lamentierten Dritte. Hatte der Aufbau den Eltern und Großeltern, gerade der Nazi-Verfolgung entronnen, Lebenshilfe bei der Eingliederung in einer fremden Umgebung geboten, fehlen den Nachkommen der deutschstämmigen jüdischen MigrantInnen Beiträge zu ihren Themen: Popmusik, moderne Literatur oder die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Reformjudentum. Größtes Handikap jedoch: Die Enkelgeneration spricht kaum noch deutsch – da schafft auch eine vierseitige englischsprachige Beilage keine Blattbindung. Dass der Aufbau zuletzt immer häufiger auch unkonventionelle Artikel publiziert hatte, so über „Homosexualität und Juden“ oder „Feminismus und Jüdischkeit“, nahm kaum jemand wahr. Dass sich der Aufbau als deutschsprachige Zeitung überhaupt Jahrzehnte auf dem amerikanischen Medienmarkt halten konnte, verwunderte selbst die Blattmacher von einst. „Zeitungen in anderen Sprachen sind meist Organe einer einzigen Einwanderungswelle, und wenn diese Einwanderungsgeneration nicht mehr da ist und ihre Kinder sich genügend 'amerikanisiert‘ haben, ist es mit der Zeitung vorbei“, stellte schon Heinz Steinitz fest, Chefredakteur von 1965 bis 1984 und gleichzeitig Amerikakorrespondent der Berliner Morgenpost. Während der ebenfalls in New York erscheinende jiddische Forwerts mangels LeserInneninteresses das publizistische Handtuch werfen musste, gelang dem Aufbau auf wundersame Weise mit zum Schluss verkauften fünftausend Exemplaren das Überleben.

Begonnen hatte einst alles in der jüdisch-deutschen Community von New York: Am 1. Dezember 1934 – „in sturmbewegten Zeiten“, wie es im Editorial heißt – feierten Mitglieder des „German-Jewish Club“ dessen zehnjähriges Bestehen mit der Gründung des Aufbaus. Die antisemitische Pogromstimmung in Deutschland sorgte bald dafür, dass aus dem zwölfseitigen Monatsblatt mit einer Auflage von fünfhundert Exemplaren eine renommierte Wochenzeitung mit zeitweilig knapp fünfzigtausend verkauften Exemplaren wurde. Maßgeblichen Anteil daran hatte der früher bei Ullstein in Berlin tätige Publizist Manfred George. Als Jude und Ossietzky-Freund mit Schreibverbot belegt, wanderte er über Prag in die USA aus und wurde der erste Chefredakteur. „Für uns, die wir als 'Greenhorns‘ nach Amerika kamen“, erinnert sich Leser James May, „war der Aufbau Vater, Mutter, Lehrer und Kindermädchen in einem.“

Hier gab es Tipps für die Wohnungs- und Arbeitsuche oder zu Einwanderungsfragen. Hier konnte der Neuankömmling erfahren, wie man eine „Social-Security“-Karte richtig ausfüllt, eine Stellenbewerbung in korrektem Englisch formuliert, Mietverträge unterschreibt und Beschwerdebriefe an Elektrizitätsgesellschaften abfasst. Autoren wie Thomas Mann, Oskar Maria Graf, Franz Werfel, Stefan Zweig, Bertolt Brecht, Herman Brod, Herbert Marcuse und Lion Feuchtwanger publizierten in der deutsch-jüdischen Exilzeitung Originalbeiträge ebenso wie Berthold Viertel, Ernst Waldinger, Hans Sahl und Max Barth ihre Lyrik.

Schon während des Krieges wurde im Blatt heftig über die Kollektivschuldthese von Emil Ludwig und Friedrich Foerster gestritten, der unter anderem Hannah Arendt entgegentrat. Freitags bildeten sich Zeitungsschlangen vor den Kiosken: an der 157. Straße Ecke Broadway in der Nähe der Redaktion und bei den Zeitungsjungen in Washington Heights, wo viele der aus Deutschland geflohenen Juden lebten – ein Viertel, das sie ironisch das „Vierte Reich“ nannten.

Herz und Hirn sind erfüllt von dem einen Gedanken: Durch dick und dünn für die Verteidigung Amerikas“ titelte der Aufbau nach dem japanischen Überfall auf Pearl Harbour. Die Leser spendeten Geld für den Bau eines Kampfflugzeugs, das die deutschstämmige Schauspielerin Elisabeth Bergner im März 1943 auf dem New Yorker La-Guardia-Flughafen auf den Namen „Loyalty“ taufte. Bereits 1942 berichtete der Aufbau als erste Zeitung in den Vereinigten Staaten über die systematische Vernichtung der Juden – niemand wollte es glauben.

Aber als Deutschland befreit war, erklang aus New York nicht die „Stimme der Vergeltung“. Drei Tage nach der deutschen Kapitulation verkündete die Redaktion: „Wir glauben, die Welt wird klüger als die Nazis sein. Sie weiß, dass Hass niemals die Grundlage der Zukunft sein kann, die wir aufbauen wollen.“ Aufgabe der Redakteure sollte sein, „zwischen der neuen deutschen Generation, dem Judentum und Israel sowie auch den emigrierten exdeutschen Juden Brücken der Verständigung und des Ausgleichs zu bauen.“ Diesem Anliegen sind sie bis heute treu geblieben.

Drei fest angestellte Hauptredakteure kümmern sich um das Erscheinen der Zeitung, daneben arbeiten noch jeweils vier PraktikantInnen in der Redaktion – Bewerbungen sind zwecklos, denn die Nachfrage ist so groß, dass die Stellen bis 2005 ausgebucht sind. Derzeit wird auf Hochtouren an einer grafischen Neugestaltung der Zeitung gearbeitet – im neuen Jahrtausend will sich der Aufbau im neuen Gewand präsentieren. Die Titelseite der 24 Seiten starken Zeitung wird zukünftig zweisprachig sein, die englische Beilage wird auf acht Seiten verdoppelt. „Aber“, versichert Chaja Koren, „wir sind und bleiben eine deutsche Zeitung.“ Die ehemalige Emigrantenzeitung soll die modernen Zugvögel ansprechen und downtown in der „alten Heimat“ spiegeln: „Wir bringen jüdisches Leben aus New York nach Deutschland. New York und Judentum, die Kombination ist toll.“

Ab 2000 wird alles besser, verspricht die neue Herausgeberin. Die deutschen AbonnentInnen sollen nicht mehr warten müssen, bis die gerollte, alle vierzehn Tage erscheinende Streifbandzeitung mit manchmal zweiwöchiger Verspätung im Briefkasten landet. Die Druckvorlagen sollen künftig auf elektronischem Wege versandt und die Rotationsmaschinen zeitgleich in New York und Deutschland angeworfen werden, damit pünktlich samstags der Aufbau sowohl in Manhattan als auch in Münster am Kiosk präsent ist. Für Deutschland visiert Chaja Koren eine Auflage von 10.000 Exemplaren an. Ein Serviceteil über New York soll die Leser zwischen Flensburg und Konstanz über die jüdische Szene am Hudson in Kenntnis setzen. Koren gibt sich optimistisch und hofft, dass das gestiegene Interesse an jüdischen Themen auch die Attraktivität für eine deutsch-jüdische Zeitung wie den Aufbau erhöht. Aber wer, möchte man fragen, pendelt schon zwischen der Kulturhochburg Manhattan und der Mainmetropole hin und her? Und wer fährt wegen eines Klezmerkonzerts des virtuosen Akkordeonisten Yuri Lemeshev nach Washington Heights, wenn er im Berliner Prenzlauer Berg gefillte Fisch bei jiddischen Klängen genießen kann? „Ad mea weesrim schana“ wünschen sich Juden in aller Welt zum Geburtstag: bis 120 Jahre.

Hans-Ulrich Dillmann, 48, lebt als freier Journalist in Berlin und Köln