Im Dienste des Kolonialismus

Christiaan Snouck Hurgronje war keine unrühmliche Ausnahme unter den niederländischen Wissenschaftlern: Ethnologen waren Kolonialbeamte. Die Forschungsgebiete waren identisch mit den Kolonien.

In den anderen Kolonialländern war es um die Ethnologie nicht besser bestellt. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Forschern und Kolonialverwaltung gab es überall. Die Ethnologen taten dies nicht aus reiner Niedertracht. Die Wissenschaftler waren ihren Forschungsobjekten meist überaus zugetan. Und weil sie wie die meisten Europäer der evolutionistischen Ansicht waren, dass sich die Menschheit vom Wilden zum Zivilisierten entwickelt, wollten sie ihren Beitrag dazu leisten, dass auch die Wilden an der Zivilisation teilhaben können.

Das hieß: Mit Hilfe ethnologischer Forschung Wege zu ersinnen, die einen Übergang vom Niederen zum Höheren erleichtern oder zumindest den Zusammenstoß der „Eingeborenen“ mit den europäischen Kulturvölkern abmildern. Auf welcher Stufe der Entwicklung sich die „Eingeborenen“ aus Forschersicht befanden, drücken allein die lange üblichen Fachbegriffe aus. In der französischsprachigen Ethnologie nannte man die Forschungsobjekte Wilde, in der englischsprachigen Primitive und in der deutschsprachigen Naturvölker.

Auch die deutschen Ethnologen unterwarfen sich unermüdlich kolonialistischen Ansprüchen. Grund für die kolonialen Schwierigkeiten, so beispielsweise Adolf Bastian, der 1869 der erste Dozent für Völkerkunde wurde, sei fehlende „Sachkunde in den ethnischen Verhältnissen außerhalb Europas“.

Die ethnologischen Forschungen waren zudem nicht nur in Aceh für die Kolonialverwaltung von größtem Wert. Im heutigen Ghana wurden die Briten mit dem stolzen Königreich der Ashanti nicht fertig. Sie beauftragten Captain R. S. Rattray mit einer Analyse des politisch-religiösen Systems. Seine Bücher über die Ashanti, heute Klassiker der Ethnologie, waren für die britische Kolonialmacht Grundlage für die Einführung der „indirect rule“.

Auch nach Ende der kolonialen Ãra waren Ethnologen noch für die Interessen ihrer Regierungen aktiv. Das großzügig ausgestattete Projekt Camelot etwa sollte im Auftrag der US-Armee herausfinden, wie man soziale Unruhen und drohende Revolutionen wie die in Kuba künftig vorhersehen und verhindern könne. Dank ethnologischer Forschung sollte dem Kommunismus zumindest vor der Haustüre der USA Einhalt geboten werden. Unter den Ethnologen gab es aber auch immer solche, die sich für Menschenrechte einsetzten und moderne Forschungsansätze vertraten. Zu ihnen zählt etwa der Amerikaner deutsch-jüdischer Abstammung Franz Boas (1858-1942), ein Kritiker des Ethnozentrismus.

Dennoch hat sich die Ethnologie nie ernsthaft von ihrer Vergangenheit gelöst. Der Afrikaner Tirmiziou Diallo berichtet etwa aus seiner Zeit als Soziologiedozent am Berliner Institut für Ethnologie: „Ein angesehener Kollege sagte 1991, ich sei nur angestellt worden, um Rohmaterial zu liefern, denken würden sie selber.“ Silke Mertins