„Ein Dialog ist nicht nötig“

Kaum hat sich die Lage in Osttimor beruhigt, rebelliert die Provinz Aceh gegen die Regierung in Jakarta. Deren Bewohner gründeten 1976, heute vor 23 Jahren, ihre Unabhängigkeitsbewegung für ein „Freies Aceh“ Von Jutta Lietsch

Sein Portrait hängt an der Wand eines Holzhauses inmitten einer Krabbenzüchterei, dem geheimen Treffpunkt der Unabhängigkeitsbewegung „Freies Aceh“ in der Provinzstadt Lhokseumawe. „Das ist unser Führer, Seine Exzellenz Hasan di Tiro“, erklärt ein Sprecher der Gruppe. „Wenn wir die Indonesier erst wieder los sind, wird er in Aceh als Sultan regieren.“ Das Foto zeigt einen grauhaarigen Herrn mit Bärtchen, Brille und dunklem Anzug, der an einem Schreibtisch sitzt.

Hasan di Tiro bezeichnet sich als legitimen Nachfolger des letzten Sultans von Aceh, der Ende des vorigen Jahrhunderts im Kampf gegen die niederländischen Kolonialtruppen sein Leben verlor. Er ist zugleich Gallions- und Symbolfigur einer Guerillabewegung, die das größte Inselreich der Welt derzeit vor eine Zerreißprobe stellt. Ermuntert vom Beispiel Osttimors fordern immer mehr Acehnesen die Unabhängigkeit von „den Javanern“, die ihre Heimat an der Nordspitze der Insel Sumatra schon über ein halbes Jahrhundert lang „besetzt halten“.

Wie hoch der Preis war, den die rund viereinhalb Millionen Einwohner Acehs in den vergangenen Jahren für ihren Widerstand gegen die Zentralregierung in Jakarta zahlen mussten, hat erst jüngst eine indonesische Menschenrechtskommission dokumentiert. Nachdem Expräsident Suharto 1989 das Kriegsrecht in Aceh ausgerufen und tausende Soldaten dorthin geschickt hatte, kamen fünftausend Menschen ums Leben – oder verschwanden spurlos.

Aceh mit seinen lieblichen Hügeln und langen Küsten liegt an der Meeresstraße von Malakka, viel näher an Malaysia als am über tausend Kilometer entfernten Jakarta. Die Region ist reich. Hier liegen die bedeutendsten Erdgas- und Ölvorkommen Indonesiens, hier gibt es Wälder, und – klassischer Nebenverdienst für Bauern und Militärs in der Region – hier wächst Marihuana gut und reichlich.

Zunächst war es der Zorn darüber, dass Jakarta die Naturschätze ausbeutete, aber nur einen Bruchteil der Einnahmen nach Aceh zurückfließen ließ, der die Rebellion entfachte. Einer der Zornigen war Nurdin Abdul Rahman, der in den Siebzigerjahren die Regierung aufforderte, Jobs für Acehnesen in den großen Firmen wie etwa Mobil Oil zu schaffen. Denn er sah, dass „alle wichtigen Posten stets an Javaner vergeben“ wurden.

Nurdin wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. „Damals dachte ich nicht an Unabhängigkeit“, erinnert sich Nurdin. „Aber sie haben mir während der Folter klargemacht, dass ich ein Nichts sei, nur ein Acehnese, der nichts zu fordern habe.“ Da habe er sich gesagt: „Wenn sie mich als Indonesier nicht akzeptieren, dann will ich auch keiner sein.“

Heute gehört Nurdin zu jenen, die ein Referendum fordern und das Recht auf Unabhängigkeit aus der stolzen und eigenständigen Tradition des acehnesischen Widerstands herleiten. Schon Sukarno habe die Acehnesen betrogen, meint Nurdin. Indonesiens Staatsgründer hatte der Region ein hohes Maß an Autonomie versprochen – und sein Versprechen umgehend gebrochen. Das war der Beginn einer bitteren Geschichte des Verrates.

Waren die Kämpfer Acehs nicht die tapfersten Krieger gegen die Niederländer gewesen, als die nach dem Zweiten Weltkrieg mit allen Mitteln ihre alten Kolonien zurückerobern wollten? Zu den Legenden gehört auch das Flugzeug, das die Acehnesen ihren javanischen Kollegen für den Kampf gegen die Holländer schenkten. Bauern und Städter Acehs hatten damals Geld und Schmuck gespendet. Doch kaum war der Traum von der Unabhängigkeit Indonesiens erfüllt, traten die Herren in Jakarta schon in die Fußstapfen ihrer alten Kolonialherren. Nicht nur in Aceh, sondern auf mehreren Inseln an der Peripherie des Archipels brachen in den Fünfzigerjahren Aufstände aus, die brutal unterdrückt wurden.

1976 kehrte der Sultan in spe, Hasan di Tiro, aus den USA, wo er seit den Fünfzigerjahren gelebt, Jura studiert und promoviert hatte, heimlich in seine Heimat zurück. Am 4. Dezember 1976 gründete er die „Aceh Sumatra Befreiungsfront“, die auch als „Bewegung Freies Aceh“ bekannt ist. Indonesiens Armee reagierte scharf. Schon drei Jahre später musste di Tiro flüchten. Er landete im schwedischen Exil, wo der 69-Jährige heute bei Stockholm lebt.

Zurück in Aceh blieb ein harter Kern von Kämpfern, die von vielen Acehnesen zunächst als zu extrem abgelehnt wurden. Doch es war die Brutalität des indonesischen Militärs, die die Bevölkerung in die Arme der Unabhängigkeitsbewegung trieb. 1989, zehn Jahre nach der Flucht von Hasan di Tiro, begann das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Provinz. Diktator Suharto schickte immer mehr Soldaten und verbot Journalisten die Einreise. Unbeobachtet von der Öffentlichkeit, begründete die indonesische Armee eine Schreckensherrschaft. Wie überall in Indonesien hatte der Einsatz nicht nur eine militärische und politische, sondern auch eine geschäftliche Seite. Firmen wie Mobil Oil, sagen viele Acehnesen, zeigten sich erkenntlich für den Schutz durch die Armee, Dorfbewohner wurden zu Abgaben an die Soldaten gezwungen. Dörfer, die verdächtigt wurden, Sympathien für die Unabhängigkeitsbewegung zu hegen, mussten Schikanen erdulden. Das Misstrauen gegenüber Jakarta ist seither tief verwurzelt.

Nach Suhartos Rücktritt im Mai 1998 erlebte Aceh einen kurzen Frühling. Nachfolger Habibie hob das Kriegsrecht auf, Armeechef Wiranto entschuldigte sich für die Gräueltaten der Armee und versprach, die verhassten Sondereinheiten abzuziehen. Bürgerrechtsgruppen konnten erstmals öffentlich über die Massaker sprechen, die Regierung versprach den Witwen Enschädigung.

Doch die Hoffnungen trogen. Die Acehnesen mussten erleben, dass die „Reformasi“-Regierung in Jakarta zwar schöne Worte fand, doch die Truppen in Aceh ihre Haltung nicht änderten. Vor diesem Hintergrund ist auch die Bitterkeit zu verstehen, mit der die Acehnesen derzeit auf die Winkelzüge des neuen Präsidenten Abdurrahman Wahid reagieren. Mehrfach erklärte Wahid, es sei nur „gerecht“, wenn die Acehnesen in einem Plebiszit über ihre Zukunft bestimmten. Kurze Zeit später erklärte er jedoch, eine Unabhängigkeit des rohstoffreichen Teils Indonesiens käme nicht in Frage. Die Bevölkerung dürfe aber entscheiden, ob das islamische Recht in Aceh gelten solle.

Welche Rolle Hasan di Tiro heute spielt, ist nicht ganz klar: Die Unabhängigkeitsbewegung ist inzwischen gespalten. Verhandlungen mit Jakarta kommen für di Tiro im fernen Schweden nicht in Frage. „Ein Dialog ist nicht nötig“, erklärte er kürzlich. „Wir sind schon unabhängig.“ Wenn es überhaupt Verhandlungen über die Zukunft geben sollte, hat jüngst ein Mitarbeiter di Tiros gesagt, dann nur mit jenem Land, das im Jahre 1873 das freie Sultanat Aceh eroberte. „Wir reden nur mit den Holländern.“

Jutta Lietsch, 47 Jahre, Südostasienkorrespondentin der taz, lebt in Bangkok