Krieg im russischen Kernland

■ Tschetschenisches Kommando mit Hunderten Geiseln weiter in der südrussischen Stadt Budjonnowsk verschanzt / Moskau verhandelt und droht

Moskau (AFP/dpa/wps) – Der Konflikt zwischen Rußland und den tschetschenischen Rebellen hat sich mit der Ausweitung der Kämpfe auf russisches Territorium dramatisch zugespitzt. Einen Tag nach dem tschetschenischen Angriff auf die südrussische Stadt Budjonnowsk, bei dem mindestens 42 Menschen getötet wurden, hielt das tschetschenische Kommandounternehmen gestern immer noch Hunderte von Geiseln in seiner Gewalt, nach russischen Angaben bis zu 1.500. Die etwa 50 schwerbewaffneten Männer, die sich im Krankenhaus verschanzt hatten, forderten eine Pressekonferenz und drohten mit der Erschießung von 300 Geiseln, falls Moskau den Krieg in Tschetschenien nicht beende oder das Gebäude stürme. Die russischen Verhandlungsführer boten eine Pressekonferenz an, wenn alle Kinder freigelassen würden. Zuvor waren bereits fünf Ärzte auf freien Fuß gesetzt worden mit der Begründung, sie hätten Blut für eine Operation des Anführers der Kämpfer gespendet.

Rund 200 vermutlich tschetschenische Kämpfer hatten am Mittwoch die Industriestadt 150 Kilometer von Tschetschenien entfernt gestürmt und mehrere öffentliche Gebäude angegriffen. Das Kommando war über die neben Tschetschenien liegende Republik Inguschien nach Budjonnowsk gelangt und passierte die Straßenkontrollen am Stadtrand, indem es sich als eine militärische Transportkolonne mit Leichen russischer Soldaten ausgab und auch das geheime Paßwort „Cargo 200“ der russischen Armee gebrauchte.

Als sie in die Stadt gelangt waren, lieferten sich die Tschetschenen heftige Schießereien mit den russischen Soldaten. Danach zog der Großteil des Kommandos wieder ab, während eine Einheit von rund 50 Kämpfern das städtische Krankenhaus besetzte.

Nach Fernsehberichten verlangt das Kommando, daß Präsident Boris Jelzin und Premierminister Viktor Tschernomyrdin sich in Grosny mit dem tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew treffen und einen sofortigen Waffenstillstand proklamieren. Am Dienstag hatten russische Truppen in Tschetschenien den letzten größeren von den Separatisten kontrollierten Ort Schatoi erobert, woraufhin Dudajew erklärt hatte: „Der Kampf ist nicht vorbei.“ Dudajew distanzierte sich jedoch von dem Angriff auf Budjonnowsk und sprach von einer „weiteren Moskauer Provokation“, die den tschetschenischen Freiheitskampf „diskreditiere“. Der Dudajew-Vertraute Usman Imajew räumte ein, es könne sich um „eine nicht-organisierte Truppe verzweifelter Dudajew-Anhänger handeln“. Gestern berichteten russische Medien, Führer des Kommandos sei der von Dudajew abgefallene Schamil Bassajew.

Die tschetschenischen Kämpfer in Budjonnowsk rechneten offenbar gestern nachmittag mit einem Sturm auf das Krankenhaus. Sie vergossen Benzin und legten Minen. Derweil nahmen der russische Innenminister Vikotr Jerin und Geheimdienstchef Sergej Stepaschin in Budjonnowsk Verhandlungen mit den Tschetschenen auf. Russische Anti-Terror-Kommandos riegelten den Ort weiträumig ab. Außerdem wurden Flughäfen geschlossen, Militär und Polizei in Alarmzustand versetzt. In Moskau wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft.