Sound im Weizenglas

■ Die „JazzBaltica“ – ein Festival der Freundschaften rund um die Ostsee

Die einspurige Landstraße windet sich um kleinparzellige Felder, auf denen drohend der Mohn steht, duckt sich unter schwerem Buchenlaub und streift reetbedachtes Fachwerk, bis sie sich endlich den letzten Hügel hinaufschwingt bis zum Ortsschild: Salzau, Kreis Fargau-Pratjau, Zollgrenzbezirk. Von hier aus läßt sich hinter den konkav geschwungenen Rapsfeldern bereits das Meer erahnen: the Baltic Sea, die Ostsee. Sie, die ihre glorreichen Tage der Hanse-Schiffahrt längst hinter sich hat, erregt höchstens noch Aufsehen, wenn sie wieder einmal böswillig eine Autofähre verschlingt.

Nach dem Willen der Kieler Landesregierung soll auf dem abgelegenen holsteinischen Gut Salzau die Ostseeregion jedoch endlich eine Aufwertung erfahren. Im Rahmen der „Ars Baltica“, des Kulturaustauschprogramms für die Ostseeregion, versucht sich hier seit fünf Jahren die „JazzBaltica“ zu etablieren, ein Festival für Jazz zwischen Oslo und St. Petersburg. Bislang besitzt das Fest noch den Charme eines mittleren Geheimtips: Trotz großer Namen – John Scofield, Eddie Harris, Klaus Doldinger – blieben auch dieses Jahr einige der 500 Sitzplätze in der großen Konzertscheune unbesetzt. Doch die Veranstalter machten aus der Not eine Tugend und erklärten die „Re-Intimisierung“ des Verhältnisses zwischen Künstler und Publikum zum Konzept. Und tatsächlich brauchte man an den sonnigen Vormittagen nur ein wenig auf dem Gelände des einstigen Rittersitzes zu schlendern, um über den legendären Elektrifizierer des Saxophons Eddie Harris zu stolpern, der gerade in nasalem Singsang die Götter anrief. Oder man warf einen Blick in die zur Konzerthalle umgebaute Scheune, um Nils Landgren bei den Proben mit seiner „Funk Unit“ zu lauschen. Denn das Besondere der „JazzBaltica“ ist: alle Formationen sind exklusiv für das Festival zusammengestellt. Selbst Django Bates' 17-Köpfige Bigband hatte erst in Salzau, zwei Tage vor dem Konzert, zum ersten Male miteinander geprobt. Zuvor waren lediglich Noten verschickt worden.

Im Gegensatz zu Massenveranstaltungen wie Moers wird vor allem der Kontakt zwischen den Musikern gepflegt. Entsprechend familiär ist die Stimmung in der Kantine: Joachim Kühn betritt den Raum in der Rolle einer alternden Diva im lila Jackett und Bundfaltenhose und küßt jedem Bekannten theatralisch die Stirn. Die zahlreichen schwedischen Jazzer vergnügen sich mit deutschem Gerstensaft und entdecken Weizenbiergläser als idealen Korpus für lautstarke Rülpser. Django Bates, Begründer der wilden Bigband „The Loose Tubes“, legt mit Vorliebe seine eigenen CDs auf – um sich hinterher mit einem höflich britischen „sorry“ dafür zu entschuldigen.

Nicht allen scheint die verordnete Geselligkeit zu gefallen: Der Russe Wladimir Tarasov, ehemaliger Schlagzeuger des Ganelin- Trios aus Vilnius, sitzt abseits mit Musikern seines „Russian Orchestra“ im Nebenraum. Der Präsident der Litauischen Jazzföderation und wichtigster Koordinator im osteuropäischen Jazz spart nicht an Kritik gegenüber dem „JazzBaltica“-Konzept: Was soll die Anlehnung an die Hanse, wenn ein Großteil der Musiker Amerikaner sind? „Die Veranstalter sind in ihrer Auswahl zu konservativ. Sie fürchten, mit zuviel Avantgarde das Publikum zu verschrecken.“ Das Problem der „JazzBaltica“ ist tatsächlich ihr Spagat zwischen der Forderung nach Innovation und den Erwartungen eines konservativen Publikums. Bei einem gänzlichen Verzicht auf große Namen wird ein weiterer Zuschauerschwund der ohnehin schwer zu mobilisierenden Holsteiner Bevölkerung befürchtet. Bereits turnusmäßig nach jedem Festival drängt die CDU-Fraktion mit einer kleinen Anfrage auf eine Diskussion, ob Kulturgelder für ein Minderheitenpublikum ausgegeben werden sollten. Als Problem erweist sich auch die bemühte Beschränkung auf den Ostseeraum. Nach fünf Jahren ist die Szene nahezu abgegrast. Wer soll nach Jan Garbarek, der als prominentester Vertreter des „Nordischen Sounds“ schon zweimal in Salzau war, noch als Publikumsmagnet wirken?

All das Gezeter um Konzept und Populismus werden jedoch durch die herausragenden Konzerte vergessen gemacht: Ein Höhepunkt war dann tatsächlich der Auftritt Tarasovs mit seinem aus der Spitze der russischen Jazzszene zusammengestellten „Russian Art Orchestra“. Seine Kompositionen verbinden traditionelle Volksmusik aus Estland mit Elementen der klassischen Moderne von Schostakowitsch bis Stockhausen.

Als die übrigen Musiker für eine Weile verstummen, um dem Solo des Bassisten Vladimir Volkov zu lauschen, hörte man von außen Regen gegen das Scheunendach prasseln. Es ähnelt einem umgedrehten Schiffsrumpf, unter dem Giebel sind zur Verbesserung der Akustik waagerecht große Segeltücher gespannt. Einen Augenblick meint man tatsächlich auf einem Schiff zu sitzen, das quer über die Ostsee unterwegs ist. Noäl Rademacher