Lernziel: MigrantInnen bleiben anders

Ein Drittel aller Schüler in Deutschland sind Kinder von MigrantInnen. Die Schulen haben diese Entwicklung verschlafen. Eine GEW-Fachtagung sucht nach Wegen für eine multikulturelle Pädagogik  ■   Von Eberhard Seidel

Berlin (taz) – Multikulturelle Gesellschaft und Schule: Was wurde da in den letzten Jahren nicht alles debattiert und skandalisiert? Die Sprachdefizite türkischer Schüler, „Gettoschulen“, die Überforderung der Lehrer angesichts der multinationalen Zusammensetzung ihrer Schülerschaft. Aber wie reagiert die bundesdeutsche Bildungspolitik darauf? Sie stellt sich tot. Das legt zumindest die dreitägige Fachtagung „Kultur des Aufwachsens – Pädagogik auf dem Weg zum multikulturellen Europa“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften (GEW) nahe, die am Wochenende in Berlin stattgefunden hat.

30 Prozent der in Deutschland lebenden Kinder kommen aus Familien mit einem Migrationshintergrund, in zwanzig Jahren wird es jedes zweite Kind sein. Trotzdem tut die Schule weitgehend so, als habe sich kaum etwas geändert. Wie konnte es zu dieser hartnäckigen Wahrnehmungstrübung kommen? Bis vor kurzem, so Ursula Boos-Nünning von der Universität Essen, herrschte in der Politik die in den 60er-Jahren entwickelte Auffassung vor, die Migranten seien innerhalb von zwei, drei Generationen in die deutsche Gesellschaft und auch in das Bildungssystem assimiliert – oder in die Heimat zurückgekehrt.

Es kam anders. Die Einwanderer haben nicht nur sich selbst, sondern vor allem die Republik fundamental verändert – demographisch und kulturell. Nur wahrhaben will diese für alle sichtbare Revolution bislang weder die Politik noch die Wissenschaft. Jugendliche nichtdeutscher Herkunft sind eine Terra incognita. Weder die Forscher der Shell-Jugendstudie noch das Münchener Institut für Jugendforschung interessierten sich bislang für sie. Jugend in Deutschland, das sind für die Jugendexperten deutschstämmige Jugendliche.

Dieser Blackout der bundesdeutschen Gesellschaft verwundert umso mehr, als durchaus hervorragendes Material in den Schubladen liegt. Zum Beispiel der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 25. Oktober 1996. Dort heißt es: „Wo Menschen unterschiedlicher Sprache, Herkunft und Weltanschauungen zusammenleben, verändern und entwickeln sich Weltbilder, Wertsysteme, Orientierungs- und Deutungsmuster, mit denen Menschen ihre Lebenswelt gestalten.“

Und was bedeutet das für die pädagogische Praxis? Die KMK fordert zu nicht weniger auf, als zu einer grundlegenden Neuorientierung der Schule in Deutschland. Interkulturelle Kompetenz, ohne die in diesem Land zukünftig kein Staat mehr zu machen ist, soll erlernt und erfahren werden, indem der gesamte Fächerkanon interkulturell akzentuiert wird. Ob im Deutschunterricht, in Mathematik, Geschichte oder den musischen Fächern, überall bietet sich die Chance, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel einzuüben, die Relativität der eigenen Position zu erkennen und in der Folge konfliktfähiger zu werden.

Drei Jahre blieben die KMK-Empfehlungen nun weitgehend unbeachtet. Nur zögerlich nimmt die Wissenschaft von ihnen Kenntnis, und in der Schule sind sie noch lange nicht angekommen. Marcella Heine vom Kultusministerium in Hannover zu den Gründen: „Im Gegensatz zur Umwelt- und Gesundheitserziehung ist interkulturelles Lernen unter Pädagogen umstritten.“ Wieso? Ein Blick in die Runde der knapp 200 Tagungsteilnehmer könnte die Antwort liefern: Viele sind weit über 50 Jahre alt, kaum einer unter 45. Noch nie lagen in Deutschland die Erfahrungswelten zwischen überalteter Lehrer- und der Schülerschaft so weit auseinander wie heute. Die von den Schülern gelebte interkulturelle Realität, die Lehrer kennen sie nur aus zweiter Hand.

Ein ähnliches Schicksal wie dem KMK-Bericht droht dem 10. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung vom August 1998. Zwar wurde die Kindheit in einer multikulturellen und heterogenen Gesellschaft noch nie so realitätsnah und kompetent beschrieben. Aber die Konsequenzen stoßen auf wenig Gegenliebe bei Wohlfahrtsverbänden, Schulen und Einrichtungen der Kinderhilfe. Man fürchtet die Konkurrenz an den Fleischtrögen. Ursula Boos-Nünning, Mitverfasserin des Berichts: „Es muss Schluss sein mit der paternalistischen Betreuung der Migranten. Die Wohlfahrtsverbände müssen sich den Migrantenorganisationen öffnen, oder sie müssen deutlich zurückgedrängt werden.“ Wenn mit Multikulti Ernst gemacht wird, tut das weh. Was bedeutet Gleichberechtigung und Ende des Paternalismus konkret? Zum Beispiel, dass in einer Stadt wie Duisburg im Jahre 2010 ein Drittel der Kindergärten unter türkisch-muslimischer Trägerschaft laufen.

Zumindest an einem Punkt herrschte unter den Tagungsteilnehmern weitgehend Übereinstimmung. Eine konsequente interkulturelle Erziehung in den Schulen ist das wirksamste Mittel gegen Fremdenfeindlichkeit. Gestützt wird diese Einsicht durch eine Untersuchung von Rainer Dollase vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an Schulen in Münster, Wuppertal und Duisburg: Je unwichtiger für die Lehrer die Fremd- und Andersartigkeit der Schüler ist, desto weniger Probleme mit Fremdenfeindlichkeit haben sie.