Der Parteitags-Loser heißt Schily

Die SPD-Delegierten in Berlin beschlossen, am individuellen Asylrecht festzuhalten. Das neue Parteiprogramm soll in Richtung Europa weisen  ■   Von Christan Füller und Karin Nink

Berlin (taz) – Da half kein Tarnen und kein Täuschen der Parteitagsleitung mehr. Alle Versuche, Innenminister Otto Schily (SPD) vor einer schweren Niederlage auf dem Bundesparteitag der SPD zu bewahren, schlugen fehl. Die sozialdemokratischen Delegierten drückten gestern per Initiativantrag ein klares Bekenntnis zum Asylrecht durch. Das richtete sich gegen Schily, der jüngst das deutsche subjektive Recht auf Asyl in Frage gestellt hatte.

Die Delegierten durchbrachen damit die Front der Einheit, die Gerhard Schröder und sein neuer Parteigeneral Franz Müntefering in dem Tagungshotel in Berlin-Neukölln aufrechterhalten konnten – bis zum letzten Tag. Die Parteioberen konnte der Ehrentreffer, den die Parteilinken und die Anhänger des Asylrechts durchsetzten, dennoch kaum stören. Die innenpolitischen Perspektiven sozialdemokratischer Regierungspolitik (siehe Kasten) gingen genau so durch, wie sie es sich erbeten hatten. Gerhard Schröder, den die SPD mit diesem Parteitreffen als Vorsitzenden wirklich angenommen hat, konnte in seiner Abschlussrede von der neuen Einigkeit der SPD schwärmen.

Innenminister Otto Schily aber musste in seinem wenige Kilometer entfernten Berlin-Tiergartener Amtssitz eine neue Disharmonie zwischen sich und der Partei zur Kenntnis nehmen. Anders als Schily pochte die Partei darauf, auch in dem angestrebten einheitlichen europäischen Asylrecht die deutsche Besonderheit dieses Rechts beizubehalten. Nur in Deutschland gibt es für politisch Verfolgte ein vor den Gerichten einklagbares Recht auf Asyl. „Wir halten am Asylrecht fest“, diktierte die Partei ihrem Innenminister nun ins Stammbuch. Auch die Altfallregelung der Inneminister, die jüngst in Görlitz beschlossen worden war, will die SPD viel schneller und großzügiger umsetzen, als sich dies Schily und mancher Amtskollege in den Ländern vorstellt. Die Partei erklärte, dass Asylbewerber, „die bereits länger als fünf Jahre in Deutschland leben“, im Land bleiben müssen. Die Innenminister sehen als Einreisestichtag für Familien bislang sechs Jahre, bei Alleinstehenden praktisch zehn Jahre vor. Das Arbeitsverbot für Flüchtlinge soll ebenfalls fallen. Auch dies beschloss der Parteitag gestern gegen den Versuch der Tagungsregie, einen entsprechenden Antrag an die Bundestagsfraktion zu überweisen. Schily büßte an Rückhalt in der Partei ein. Die nach Berlin delegierte Basis war schlicht sauer, dass der Innenminister gar nicht anwesend war. Umso mehr empörte sie sich über eine Interview-Äußerung Schilys, 97 Prozent der Asylbewerber seien in Wahrheit Wirtschaftsflüchtlinge. „Wirtschaftsflüchtlinge sind in Wahrheit jene, die ihr Kapital ins Ausland schaffen“, sagte Ursula Keler, SPD-Fraktionsvize aus Schleswig-Holstein. Die ganze Partei müsse den Innenminister für diese Äußerung verurteilen – und das tat der Parteitag dann auch. In der SPD angesehene Fachleute wie der Vorsitzende der SPD-Juristen Klaus Hahnzog waren enttäuscht, „dass Schily Leute vor den Kopf stößt, die sich seit vielen Jahren für das Asylrecht engagieren.“

Am Ende des Parteitages beschlossen die Genossen und Genossinnen eine Programmkommission, die das gültigen Berliner Parteiprogramms von 1989 überarbeiten soll. Rudolf Scharping, Parteivize mit schlechtem Wahlergebnis und Vorsitzender der Kommission, wies in seiner Rede darauf hin, dass das praktische Handeln in der Regierungsarbeit nicht von den langfristigen Perspektiven der Partei zu trennen sei. Das Grundsatzprogramm dürfe nicht als „Spielwiese“ missverstanden werden, es gehe nicht um „gesellschaftstherapeutische Anstrengungen“, unterstrich er die Bedeutung der Programmfortschreibung. Vielmehr hofft er, dass das neue Programm eine „verlässliche Grundlage der Politik“ werde – „gegen Überraschungen und Hektik“. Das neue SPD-Programm wird stark an Europa orientiert sein. Scharping forderte, dass der Programmprozess in der SPD zur Integration in Europa beitragen müsse. Auch der Parteilinke Michael Müller und der NRW-Ministerpräsident Wolfgang Clement plädierten für eine europäische Dimension. „Wir wollen einen deutschen Beitrag für die europäische Reformdebatte“, rief Müller.

Der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, der selbst an dem noch gültigen Berliner Programm mitgeschrieben hatte, plädierte mit Verve dafür, an bestimmten Passagen des alten Programms festzuhalten. Zum Beispiel an dem Satz „die Würde des Menschen ist unabhängig von seiner Leistung und seiner Nützlichkeit.“ Im Hinblick auf das Verhältnis von Wirtschaft und Politik rief Vogel: „Der Markt ist nur ein Instrument und darf nicht zur letzten Instanz werden.“ Die letzte Verantwortung müssten die demokratisch legitimierten Institutionen behalten, umschrieb er das notwendige Primat der Politik. Auch er plädierte für eine Hinwendung zu Europa. Er sagte: „Wir sind in eine Phase eingetreten, in der das Wort Weltinnenpolitik keine Utopie mehr ist, sondern Realität werden muss.“