Alle Wetter: die Neue Welt

■  Angela Krauß reist von Neu Kynitzsch aus nach New York, und wer mitkommt, sieht in ihrer Erzählung „Milliarden neuer Sterne“

Im Oktober 1999, genauer: am Geburtstag ihrer Mutter, ganz genau: in Neu Kynitzsch (NKY), stellt sie es fest: Die Ich-Erzählerin in Angela Krauß' neuem Prosatext „Milliarden neuer Sterne“ muss nach New York (NY) fahren. Eine plötzliche Sehnsucht hat sie ergriffen, was einerseits merkwürdig ist: „Ich habe New York in Neu Kynitzsch nie wirklich vermisst.“ Andererseits aber versteht es sich fast von selbst. Denn Neu Kynitzsch – nicht schwer zu raten, dass das in der ehemaligen DDR liegt – „ist schon früh von stillen Selbstanrufungen erfüllt, von argwöhnischen Selbstverhören und verschämten Gebeten“, rundum herrscht „Neid auf den, der was vorhat“: NKY ist „Tod auf der ganzen Linie“ – NY hingegen „Jugend auf der ganzen Linie“. Und da ihr Credo heißt „Ich will mich ins Schöne verirren! Ich verlange Glück!“, ist die Frau in NKY eben falsch, in NY aber goldrichtig: „Genauso sieht es in mir aus, solche Zustände herrschen da drinnen: bis über die Toppen geflaggt!“

Und so könnte sie, volle Kraft voraus, gleich mitten hinein segeln ins Klischee: New York! Die Neue Welt! Alle Wetter! Wie leicht könnte das passieren, hätte Angela Krauß nicht so arglistig naiv schon von Anfang an alle Muster ausgebreitet, über die Ottilie Normalverbraucherin ihrer Desillusionierung durch die selbst in New York normal dreckige, widerspenstige Wirklichkeit entgegenstolpern würde. Aber nicht hier. „Change the game. Deshalb bin ich hergekommen. Deshalb habe ich hergewollt. Deshalb wollen sie alle her“ – Angela Krauß beobachtet, was dann passiert. Zum Beispiel: Sie macht einen Kopfstand und sieht folglich die JoggerInnen auf dem Dach unterhalb ihres Apartments kopfwärts ihre Bahnen ziehen. Oder sie rast zu Fuß durch die Stadt und stellt fest: „Immer öfter kann ich mich an nichts erinnern. Gelingt es mir doch, so gefällt mir in dieser Stadt nichts mehr.“ Oder sie trifft einen Russen, der sie zu sich nach Hause einlädt: „Ein Building mit sechs Aufzügen in Bowling Green, am Bug von Manhattan. Aus allen Fenstern See, und hinter allen Fenstern Russen.“

So ist dies Buch gemacht: die Wirklichkeit – ein Schweben. So dass es am schönsten wäre, sich mit diesen 50 Seiten ins neue Jahrtausend hinüberzulesen. Plötzlich stünde man auf der Brooklyn Bridge: „Wir stürzten ins Ziel und sahen die Sternensträuße über dem Wasser explodieren.“ Die leuchten, weil Angela Krauß sie hinzaubert, noch bis nach Seeheim a. d. Bergstr. Frauke Meyer-Gosau
‚/B‘ Angela Krauß: „Milliarden neuer Sterne“. Suhrkamp, Frankfurt/M. 48 Seiten, 19,80 DM