Hörhilfe: Goethes Erben
■ Auf der Suche nach der edleren Form: „Brehms Tierleben“ und Stephen King
Alfred Edmund Brehm mochte die ansonsten „vernachlässigte, vorurteilsvoll betrachtete Hauskatze“. Das hat ihn allerdings nicht davon abgehalten, nachzuweisen, dass Katzen immer wieder auf allen vier Pfoten landen. Egal, aus welcher Höhe man sie fallen lässt.
Im Rahmen dieses Tierversuchs gelangte der Zoologe wahrscheinlich auch zu einer anderen Einsicht. „Manchen Katzen ist freilich nicht immer ganz zu trauen. Sie beißen und kratzen oft, wenn man es sich gar nicht vermutet“, schrieb Brehm in seinem „Illustrierten Thierleben“, das zwischen 1863 und1869 zunächst als sechsbändiges Werk erschien. Es machte Brehm, damals Zoodirektor in Hamburg, auf der Stelle berühmt. Einige Jahre später überarbeitete er sein Werk, das jetzt „Brehms Tierleben“ hieß und zehn Bände hatte. Die einbändige Ausgabe findet man seitdem häufiger in deutschen Bücherregalen als Goethe. Dabei hat Brehm eine Menge von Goethe gelernt. Wenn er zum Beispiel über die Paviane schreibt, ist der Naturwissenschaftler deutlich geprägt vom platonischen Humanismus des Dichters: „Jede edlere Form ist hier verwischt, und jede edlere Geistesfähigkeit in der Unbändigkeit der scheußlichsten Leidenschaften untergegangen.“
Auch der amerikanische Autor Stephen King ist ein platonischer Humanist, ins Dunkle gewendet: Seine Figuren mühen sich nicht mit dem Wahren, Guten und Schönen, sondern haben mit den Idealformen des Bösen zu tun. Der immer noch vernachlässigte und vorurteilsbehaftete Horrorschriftsteller Stephen King wird Goethe gelesen haben, und wahrscheinlich hat er obendrein auf seinem Nachtschrank eine englische Übersetzung von „Brehms Tierleben“ liegen, um ab und zu darin zu blättern und sich ein neues gruseliges Tier auszusuchen. Wie Cujo, den unangenehmen Bernhardiner, oder auch Winston Churchill, genannt Church, der auf den ersten Blick ganz nette Kater aus dem Roman „Friedhof der Kuscheltiere“. Der Titel ist niedlich. „Friedhof der Kuscheltiere“ ist allerdings ein ziemlich unappetitlicher Roman. Die Hörspielbearbeitung heißt einfach „Friedhof des Grauens“.
Der Arzt Louis Creeds zieht mit seiner Familie nach Ludlow in Maine. Church maunzt auf der langen Fahrt böse auf dem Rücksitz, ein paar Wochen später wird er von einem Auto überfahren. Creed begräbt ihn auf den Rat eines alten Nachbarn hin auf einem Indianerfriedhof, und am nächsten Tag miaut Church wieder der Haustür. Er beißt unvermutet und riecht schlecht. Nach Tod.
Das materialistische Weltbild des Arztes gerät aus den Fugen. Dann verunglückt sein kleiner Sohn tödlich. Man kann sich vorstellen, wie es weitergeht (auch wenn man es lieber nicht täte): „Friedhof des Grauens“ ist ein böses Zombie-Hörspiel. Nicht albern, einfach nur gruselig: ein Beweis dafür, das Kings Horrorszenarien sich nicht nur verlustfrei in Filmbilder übersetzen lassen, sondern auch in reine Dialoge. Und in unheimliche Tiergeräusche natürlich. Der Ruf eines Eistauchers spielt eine besondere Rolle, und im „Brehm“ könnte man dieses Tier jetzt nachschlagen.
In der gekürzten Hörversion, die im gerade erst neu gegründeten Audio Verlag erschienen ist, muss man auf den Eistaucher zwar verzichten, dafür werden aber neben der Familie der Katzen und dem Haushund der Alpenpfeifhase und das Dromedar berücksichtigt. Ein schönes Hörbuch: Der Schauspieler Thomas Holtzmann liest mit freundlicher Distanz die Wissenschaftsprosa des Zoodirektors Brehm, in der auf jedes „hegen“ unmittelbar ein „pflegen“ folgt, Affen ein „tiefes Gemüt“ haben und auch sonst menschliche Charaktereigenschaften grundsätzlich auf die Tierwelt übertragen werden.
Irgendwie funktionierte damals, vor hundert Jahren, die Welt noch als narrativer Zusammenhang. Sogar die Naturwissenschaften hatten nette Geschichtchen zu erzählen. Heute erzählt Stephen King Geschichten. Und die sind nicht so nett. Kolja Mensing
„Brehms Tierleben“. Audio Verlag, Berlin 1999. 4 CDs, 69,95 DM Stephen King: „Friedhof des Grauens“. Hörverlag, München 1999. 2 MCs, 32 DM
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