Im Angesicht der Leerstelle

Alexander Kluge zeigt es in dctp: Christoph Schlingensief hat ein neues Gewicht bekommen. Eigentlich auf dem Weg zu seiner individuellen Autonomie, funktioniert der Aktivist im Biedermeier der Postmoderne inzwischen als Volkskünstler  ■   Von Petra Kohse

Das Brisante an Schlingensiefs Aktionen ist, dass sie nicht funktionieren. Oder nicht so wie angekündigt.

Natürlich sieht nicht wirklich ein Millionenpublikum zu, wenn bei VOX mitten in der Nacht zwischen den 0190-Trailern Alexander Kluges dctp gesendet wird. Auch konnte die Berliner Volksbühne bisher noch immer alle Kartenwünsche erfüllen, und vom „Deutschlandsuche“-Projekt im Herbst hat eigentlich niemand etwas mitbekommen. Dennoch kommt einem der Theater- und Filmregisseur Christoph Schlingensief seit diesem Wochenende endgültig vor wie ein Massenphänomen. Was – jahresendzeitliche Dialektik! – daran liegen mag, dass er sich vom publikumsorientierten Parteitrommler des Chance-2000-Gedankens zum fast introvertierten Botschafter seiner selbst entwickelt hat. Den Slogan „Sei 1 Volk“, der ihm bei der letzten Bundestagswahl echte Stimmen eingebracht hat, zu Ende denkend, arbeitet Schlingensief an seiner individuellen Autonomie. Privat hat er angefangen, sich selbst anzurufen und zum Essen einzuladen. An der Peripherie der Medienaufmerksamkeit nimmt er plakative Setzungen vor, deren Medienaufarbeitung er dann als Hoheitsrecht selbst ausübt.

So waren es vor allem seine eigenen Berichte über die „Deutschlandsuche“ auf den Berliner Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die darüber informierten, dass die deutsche Provinz im September drei Wochen lang von ihm mit Wagner beschallt und nach Helden abgesucht worden ist. Und so war es seine eigene Stimme, die in der Nacht auf Samstag in dctp aus dem Off den „Werkzeugkasten der Geschichte“ kommentierte, eine komplexe filmische Aufarbeitung von Schlingensiefs letztem Bühnenprojekt, dem „2. Internationalen Kameradschaftsabend“ in der Volksbühne. Ein Mann, ein Werk, ein Wort. Dazwischen gab es Filmausschnitte der New York-Etappe der „Deutschlandsuche“: Umringt von Kameras schickt sich Schlingensief zum Kniefall vor der Freiheitsstatue an, mit dem er „Deutschland dem Globalismus übergeben“ will. Danach sieht man ihn einsam vor dem Goethe-Institut stehen und rufen: „Kauft nicht bei Deutschen.“

Im Fernseher wirkte der Aktivist Schlingensief seltsam pummelig, wie er – ein weiterer Teil der fünfstündigen Sendung – da zum Interview vor Alexander Kluges Kamera saß. Aber das neue Gewicht steht ihm. Ein Künstler, der in seinen Projekten die Peinlichkeit zum Stil, die Provokation zum Inhalt und die Panne zur Katharsis erhebt und sich auf professionelle Weise stets so persönlich gibt, dass er in der mehr und mehr dem Privatismus zuneigenden, sich aber noch immer als kritisch begreifenden Öffentlichkeit aufgeht, als hätte sie ihn erfunden. Es passt zum Biedermeier der Postmoderne, dass die meisten Medien seinen Namen am liebsten in Anführungszeichen setzen würden, aber trotzdem jede Agenturmeldung über ihn abdrucken, und das waren in diesem Jahr immerhin schon mehr als 200. Anders herum nährt es Schlingensiefs Gesellschaftskritik in Form subversiv gemeinter Affirmationen, dass sie entweder als reaktionär oder überhaupt nicht wahrgenommen wird.

Der „Internationale Kameradschaftsabend“ in der Volksbühne Ende November beispielsweise, bei dem unter anderen der Ex-Kommunarde Rainer Langhans, der Jungautor Benjamin von Stuckrad-Barre, die brandenburgische Ex-SPD-Ministerin Regine Hildebrandt, der Ex-APO-Anwalt und jetzige Ausländerfeind Horst Mahler sowie Meir Mendelssohn, israelischer Staatsbürger und Schänder von Ignatz Bubis' Grab, zusammenkamen, wurde in der Presse müde durchgewinkt, von der Jüdischen Gemeinde Berlins aber mit einer Strafanzeige bedacht. Mendelssohn habe das Publikum aufgefordert, das Wort „Judensau“ zu sagen.

Als künstlerisch Verantwortlicher der Volksverhetzung verdächtigt, verteidigte sich Schlingensief damit, dass an diesem Abend konzeptionell jeder für sich selbst verantwortlich gewesen sei. Tatsächlich bot die als öffentlicher Dreh des „Prototyps für eine neue Fernsehshow“ inszenierte Runde der Prominenz aus linken, rechten und indifferenten Lagern die Möglichkeit, ein selbst verantwortetes einminütiges Statement im filmischen „Werkzeugkasten der Geschichte“ abzulegen. Die Kamera, die ihnen abgestoppte sechzig Sekunden zur Verfügung stand, pendelte dabei fortwährend von rechts nach links über die Bühne. Schlingensiefs Hoffnung aber, dass die Gäste aus ihrer Verantwortung für sich selbst eine Verantwortung für das Ganze übernehmen und die Einminutengrenze sprengen würden – „Rainer Langhans wirft sich auf die Schienen, Oberlärcher rast mit der 4. Reichsverordnung dazwischen, Regine Hildebrandt brüllt: ,So geht es aber nicht!‘ und lässt das Todespendel der Sozialdemokratie wieder anrollen.“ – wurde enttäuscht. Meist schweigend verschrieb sich Langhans „dem Nichts“, Stuckrad-Barre forderte den Tod der Ironie, ein Tanzlehrer machte Foxtrott vor und alle blieben im Einminutentakt.

Zum Glück, denn das wirklich Brisante an Schlingensiefs Aktionen ist ja, dass sie nicht funktionieren. Zumindest nicht so wie angekündigt. Sondern so, dass man sich noch grausen kann vor ihren Möglichkeiten. Darin ist Schlingensief letztlich ein Volkskünstler: dass er die Grenzen nachzieht und zeigt, wo außer ihm keiner mehr steht. Um sich dann am Gescheitertsein schadlos zu halten – als des einzig Richtigen im Falschen.

Die Fernsehfassung des Kameradschaftsabends ist ihm und Alexander Kluge allerdings gelungen. Ein Malstrom von geschriebenem und gesprochenem Text zieht auf verschiedenen Ebenen vorüber, die Köpfe der vor der Kamera Stellung Beziehenden werden mit erschütternden Szenen aus Schlingensief-Filmen unterlegt, dazu aufgepeitschte Streichorchester und immer wieder ein Gameshow-Jingle, wenn der nächste Gast auftritt. Grandios unüberschaubar geschnitten, mit Hinterbühneneindrücken versehen und mit Off-Kommentaren witzig vollgekritzelt, simuliert dieser Film ein Diskursereignis, das nach Augenzeugenberichten gar nicht stattgefunden hat. Aber es hätte stattfinden können, und im Angesicht dieser Leerstelle stellte sich zwischen allen Aufgeregtheiten und Beleidigungen hinterrücks eine dankbare Ergriffenheit ein, welche die Gäste einander letztlich doch ein Stück weit nahe brachte. „Bringt das Alter Weisheit oder Erkenntnis?“, fragte Benjamin von Stuckrad-Barre irgendwann forsch und ganz groß im Bild, worauf der mehr als doppelt so alte Rainer Langhans ins Ferne blickend zurückgab: „Lässt sich das trennen?“ „Nein“, erwiderte Stuckrad da langsam. Dann schwiegen beide.