Serbiens verlorene Generation

Nis, die zweitgrößte Stadt des Landes, wird von der Opposition verwaltet. Doch im Krieg wurde sie besonders hart getroffen. Viele junge Menschen haben resigniert und sehen für sich keine Perspektive mehr ■ Aus Nis Andrej Ivanji

„Wenn diejenigen, denen es wirklich dreckig geht, nur jammern, warum sollte ich dann auf die Barrikaden gehen?“

Der 26-jährige Veljko ist arbeitslos. Nichts Unübliches in der Industriestadt Niš im Süden Serbiens, in der die Arbeitslosigkeit bei weit über 50 Prozent liegt. Veljko hat es längst aufgegeben, sich einen Job zu suchen. „Macht keinen Sinn“, sagt der junge, blonde Mann weder verbittert noch verzweifelt.

Mit ruhiger Stimme zählt er Fakten auf: Ein Durchschnittsgehalt beträgt in Serbien umgerechnet etwa 50 Mark, davon kann man beim besten Willen nicht leben; die Nato hat der ohnehin bankrotten Wirtschaft den Rest gegeben und das ausländische Kapital auf unabsehbare Zeit aus dem Land verscheucht; das gegen Jugoslawien verhängte Wirtschaftsembargo erstickt langsam, aber sicher die physische und geistige Existenz der Bürger Serbiens.

„Wir alle haben hier schon vergessen, wie ein normales Leben ausschaut“, sagt Veljko. Die meisten Menschen leben vom Schwarzhandel, kaufen und verkaufen auf dem Flohmarkt, der Lebensquelle der Stadt. Das Motto lautet einfach, über die Runden zu kommen, man lebt von Tag zu Tag, immer nur 24 Stunden im Voraus denkend. Nach so vielen Kriegen passt man sich der ewigen Ungewissheit an und gibt allmählich jegliches Planen auf.

Veljko war zwölf Jahre alt, als der heutige jugoslawische Präsident Slobodan Milošević die Macht in Serbien ergriff. Seine ganze Jugend verging im Schatten des Krieges, der internationalen Isolation Serbiens, der rasenden Inflation, des nationalistischen Wahns, der sich in einen Alptraum für die Serben verwandelte.

Veljkos Auffassung, auf „verdammter Erde“ zu schreiten, bekräftigte endgültig das dreimonatige Bombardement der Nato. Niš, eine Stadt, die von der serbischen Opposition verwaltet wird, ein Symbol des Widerstands gegen das Regime Milošević, wurde am schlimmsten zugerichtet. „Wir hier kämpften gegen Milošević, weil wir an westliche Demokratie glaubten, und die westliche Demokratie bombardierte uns, weil Milošević Scheiße baute. Komisch, nicht wahr?“, lächelt Veljko, einfach die Tatsachen feststellend. Einige seiner Freunde sind Opfer der Nato-Angriffe geworden. Veljko wurde einberufen, um „das Land gegen die Nato zu verteidigen. Totaler Quatsch, dieser ganze Krieg“, sagt er. Wenigstens wird er den ausstehenden Sold, 860 Dinar (etwa 40 Mark) im Monat, noch eine zeitlang erhalten.

Veljko lebt in der Wohnung seiner Mutter in Niš, hat keine Pläne für die Zukunft, geht grundsätzlich nicht an die Urnen und vertraut keinem Politiker. Er hat kein Geld, geht nicht aus, ab und zu trifft er sich mit Freunden, um „die Sau raus zu lassen“ – das heißt, sie lassen sich volllaufen. „Ich habe eben den Kürzeren gezogen“, erklärt Veljko achselzuckend, als ob er sich entschuldigen würde.

Seinen Freunden und Bekannten geht es nicht besser. Ein Drittel ist ausgewandert, ein Drittel an Drogen und Alkohol gestorben, und das verbliebene Drittel lebt vor sich hin, ohne Hoffnung, ohne Ziel. Er und seine Freunde demonstrieren längst nicht mehr gegen das Regime. Sie vertrauen der Opposition nicht, und nachdem sie monatelang von der Nato bombardiert worden sind, schenken sie auch den „westlichen Werten“ keinen Glauben mehr. Sie sind die „verlorene Generation“ Serbiens. Nicht einmal 30, sind sie schon verbraucht, haben keinen Antrieb mehr.

Das einst blühende Niš ist das Spiegelbild des sozialen und wirtschaftlichen Elends Serbiens geworden. Mit 250.000 Einwohnern die zweitgrößte serbische Stadt, lebte Niš von der elektronischen, der Maschinen- und Tabakindustrie. Doch mittlerweile ist die Technologie veraltet, selbst ohne die Zerstörung durch Nato-Bomben wäre sie auf dem europäischen Markt nicht konkurrenzfähig. Wegen des zentralistischen Machtsystems fließt das Geld nach Belgrad, während die von der Opposition verwaltete Arbeiterstadt sich selbst und der humanitären Hilfe aus dem Westen überlassen ist.

Und wie das international isolierte Regime Milošević zu dieser Hilfe der EU für die von der Opposition verwalteten Städte steht, konnte man vergangene Woche sehen, als die serbischen Behörden Tanker mit für Niš und Pirot bestimmtem Heizöl im Rahmen des Programms „Energie für Demokratie“ 14 Tage lange an der Grenze festhielten, während die Bürger frieren mussten. Nur damit ja niemand auf den Geschmack kommt, dass sich die Zusammenarbeit mit dem Westen auszahlen könnte, wenn sie nicht von Milošević abgesegnet oder gar gegen sein Machtsystem gerichtet ist.

Das gemeinsam von der Demokratischen Partei (DS) und der Serbischen Erneuerungsbewegung (SPO) verwaltete Niš ist das Musterbeispiel dafür, dass die sonst hoffnungslos zerstrittenen serbische Opposition zusammenarbeiten kann, und ist deshalb umso mehr den Angriffen des Regimes ausgesetzt. Täglich demonstrieren in Niš mehrere tausend Bürger gegen Milošević.

„Nichts fürchtet Milošević mehr als die Vereinigung der Opposition. Allein hat keine Partei eine Chance im Kampf gegen das Regime, gemeinsam könnten wir jedoch einen Wandel erkämpfen“, erklärt Zoran Zivković, der Oberbürgermeister von Niš und Stellvertreter des DS-Vorsitzenden Zoran Djindjić.

Im Rathaus herrscht die Stimmung eines Krisenstabs. Die Kasse ist leer, und so muss die Stadtverwaltung täglich improvisieren, um die Bürger mit dem Nötigsten zu versorgen: Heizöl, Strom und Nahrungsmittel für die 13.000 serbische Flüchtlinge aus dem Kosovo, 3.500 Geflohene aus Kroatien und Bosnien, für Sozialfälle, und letztendlich muss die Stadt oft die Mittel für Begräbnisse finden. Viele Bürger können sich nicht einmal den Tod leisten.

Die Industrie in Niš arbeitet nur noch mit 10 bis 15 Prozent ihrer Kapazitäten. „So lange Milošević an der Macht ist, können wir den sozialen Verfall nur dämpfen, jedoch nicht aufhalten. In Serbien muss es zuerst zu einem politischen und dann zu einem wirtschaftlichen Wandel kommen“, sagt Zivković.

Der Bürgermeister ist stolz auf seine Stadt. Für ihn ist Niš seit drei Jahren die eigentliche Hauptstadt Serbiens, „weil hier das Schicksal Serbiens entschieden wird, weil hier alle Probleme Serbiens miteinander verwoben sind, weil wir hier täglich das Regime besiegen“. Er glaubt, dass Nims eine „Lawine der Demokratie“ auslösen könnte, die Serbien überrollen würde. Niš ist für ihn „das bisher größte Opfer von Slobodan Milošević, aber auch der Nato“.

„Wir kämpften gegen Milosevic, weil wir an die westliche Demokratie glaubten, und die bombardierte uns“

Junge Menschen zielen nicht so hoch. Sie haben ihre eigenen Probleme. Der 30-jährige Ivan Zivanović ist Miteigentümer der Advertising- und Modeagentur Imago. „Die größte im Süden Serbiens“, sagt er stolz. Er hat sich bis zum Hals verschuldet und wartet, wie alle anderen, auf bessere Zeiten, auf freie Marktwirtschaft, auf die Aufhebung des Wirtschaftsembargos, damit ausländische Kunden endlich wieder ins Land kommen . „Jetzt tröpfelt das Geld, es könnte jedoch fließen“, sagt Ivan verärgert.

Der Höhenflug der D-Mark in den letzten Tagen auf dem Devisenschwarzmarkt macht Ivan äußerst nervös. „Die Inflation könnte uns ruinieren“, sagt er gereizt. Ivan ist modisch gekleidet, ehrgeizig und geschickt. Doch er muss sich den chaotischen Umständen der Vetternwirtschaft anpassen. „Hier bist du entweder Freund oder Feind. Meine Kunden stammen sowohl aus der Opposition als auch aus der regierenden Koalition. Dabei können politische Probleme jedes Unternehmen über Nacht ruinieren. In diesem Durcheinander versuche ich mich über Wasser zu halten und sauber zu bleiben“, sagt Ivan und träumt von Millionen, die ihm unter geregelten wirtschaftlichen Verhältnissen greifbar nahe wären.

Ivan lebt in der bunten Welt der Werbung und Mode. Er hat seine Mannequins, organisiert Modeschauen, ist gerade dabei, in Niš Dutzende von Reklametafeln aufzustellen, unter „normalen Verhältnissen ein glänzendes Geschäft“. Als Gegenleistung muss er verfallene Bushaltestellen renovieren. Ivan macht den Umständen entsprechend gute Geschäfte, er ist aber auch überzeugt, der Stadt etwas Gutes zu tun, indem ein wenig Farbe ins Alltagsgrau bringt. Für die sozial wirklich bedrohte Schicht ist er ein bunter Vogel, die ihn nirgendwo einordnen kann.

„Weißt du, ich lebe hier auch so ganz gut. Bei mir stehen zehn Jahre Arbeit und Investitionen auf dem Spiel. Wenn diejenigen, denen es wirklich dreckig geht, die nichts zu verlieren habe, nur jammern und nicht gegen das Regime kämpfen, warum sollte ich dann auf die Barrikaden gehen?“, stellt Ivan ruhig fest.