Auf ihrem kleinen Parteitag zur Familienpolitik sind die Christdemokraten aus dem Schatten Helmut Kohls getreten
: Doppelter Abschied vom Patriarchat

Der Aufbruch am Abgrund ist für die Christdemokraten ein riskantes Manöver

Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Wer ist’s, der uns Hilfe bringet, dass wir Gnad erlangen? Altes Kirchenlied zum Buß- und Bettag

Die CDU hat sich versammelt – unter dem Damoklesschwert. Auf ihrem kleinen Parteitag in Berlin blickte sie in den Abgrund – und in die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Durch Abwesenheit glänzte der einstmals große Vorsitzende, in dessen Schatten die CDU alles Leben verlor und in dessen Schattenreich sie nun verschwinden kann. Präsent und hellwach war einmal mehr eine Generalsekretärin, die durch eine große Rede die CDU aus ihren ideologischen Krähwinkeln herauszuholen und auf eine veränderte Welt einzustimmen versuchte.

Nichts ist entschieden, da nach wie vor nicht bekannt ist, woher die Spenden kamen, wohin sie gingen, was sonst noch alles geschehen ist an so schönen Orten wie St. Margarethen, Vaduz und Paris. Aber alles ist wieder möglich, wenn die CDU ihren Kurs der Erneuerung fortsetzen kann. Die Implosion der christlich-demokratischen Union (und des gesamten Parteiensystems) – oder aber eine mögliche Wiederkehr der Politik und des politischen Wettbewerbs, bei dem man die Parteien nicht an ihren Affären, sondern an ihren Inhalten erkennen könnte: Das sind die extremen Pole, zwischen denen sich das politische Leben in Deutschland abspielen wird.

I. In Berlin hat die CDU begonnen, Abschied zu nehmen vom Patriarchat, und das gleich im doppelten Sinne. Wie ein Paterfamilias hat Helmut Kohl die Partei beherrscht, wie ein Gutsherr sein Gesinde: patriarchalisch und vordemokratisch. „Die Familie ist das Fundament der Gesellschaft“, war sein Refrain zum Thema Familienpolitik, doch keiner machte sich Gedanken darüber, warum dieses Fundament im Laufe seiner Regierungsjahre immer kleiner und immer schwächer wurde.

Es gibt heute in Deutschland weniger Familien, weniger Kinder als in fast jedem anderen Land der Welt. Auf ihrem Mannheimer Parteitag hat die CDU 1975 Gleichberechtigung, Wahlfreiheit und Partnerschaft als die Leitsterne ihrer Familienpolitik beschlossen. Danach sind vor allem zwei Dinge geschehen: In der Welt der Politik wurden, öffentlich und sichtbar, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eingeführt, große Schritte nach vorn. In der Welt des Alltags und der Ideologie hat man(n) über alle Parteien hinweg klamm und heimlich so getan, als ob die Vereinbarkeit von Familie und Beruf im Grunde eine private Angelegenheit der Frauen sei, während der Rest der Gesellschaft und die Politik so bleiben könnten, wie sie immer waren. Insbesondere das konservative Milieu aller Schichten und Parteien hat stets eine hinterhältige Doppelbotschaft an alle Frauen gesandt: Natürlich dürft und sollt ihr eure beruflichen Aspirationen leben. Aber nur eine 24-Stunden-Mutter ist eine gute deutsche Mutter. Die Folgen: der soziale Stress vieler Familien, Frauen und Kinder ebenso wie der Exodus der Familien aus der Gesellschaft.

Dann kamen, 1985, die Essener Leitsätze der CDU zur Frauenpolitik, Rita Süssmuth als erste Frauenministerin – und Heiner Geißler, frauenbewegt, über und hinter allem. Barbara Sichtermann und Cora Stephan staunten damals über den „Feminismus der CDU“ und meinten überrascht, das solle ihr die SPD erst einmal nachmachen. Doch im Rückblick ist klar: Es war ein kurzes Strohfeuer. Rita Süssmuth und Heiner Geißler wurden bald politisch entsorgt, und das System Kohl strebte seiner Vollendung entgegen: nach innen Netzwerke der Begünstigungen und der Abhängigkeiten, nach außen eine Gesellschaftspolitik des „Weiter so“ und allüberall eine Personalpolitik des Mittelmaßes. Frauen in seinen Kabinetten mussten vor allem zweierlei sein: pflegeleicht und unauffällig. Bei einer hat sich Kohl getäuscht (oder sie ihn?): Angela Merkel.

II. Dies ist der politische, soziale und historische Kontext, in dem zu würdigen ist, was jetzt in Berlin geschah: eine kleine Kulturrevolution, für CDU-Verhältnisse allemal, aber auch für Mitte und Mehrheit der Gesellschaft. Die Leitsätze der CDU und die schnörkellose Rede von Angela Merkel entstauben den traditionellen Familienbegriff, enttabuisieren die Frage der Kinderbetreuung, setzen erste Anreize dafür, dass der Erziehungsurlaub auch für Männer attraktiver wird. Auch wenn das Ehegattensplitting privilegiert bleibt, so wird Familienpolitik von der CDU doch nicht länger als Schutzpolitik für bedrohte Soziotope gedacht, sondern als Teilantwort auf die Frage, wie im 21. Jahrhundert Arbeit und Leben, die Beziehungen zwischen den Generationen und den Geschlechtern, die Imperative der Ökonomie und die lebensweltlichen Wünsche der Menschen in eine bessere Balance gebracht werden können.

Wer gegenwärtig erkunden möchte, wo sich etwas bewegt in politischen Köpfen, kann das Bündnis für Arbeit getrost vergessen. Er sollte die Reden von Angela Merkel in Berlin und von Andrea Fischer auf dem jüngsten Strategiekongress von Bündnis 90/Die Grünen parallel lesen und wird erstaunt ahnen, wo und wie die spannenden gesellschaftspolitischen Themen der Zukunft diskutiert werden (könnten). Einmal was die analytische Klarheit betrifft: Soziale Gerechtigkeit und Familie sind ja bekannte Beispiele dafür, wie man an der Wirklichkeit vorbeimoralisieren kann mit dem Ergebnis, dass man dann am Ende weniger und nicht mehr davon hat: von Gerechtigkeit und von Familie. Zum anderen was die politische Perspektive jenseits falscher Alternativen betrifft: Merkel und Fischer deuten, bei allen Unterschieden im Einzelnen, doch aufs Ganze betrachtet einen historischen Kompromiss an. Die einen sagten: Außerhalb der gewohnten Arrangements keine Familie! Die anderen glaubten: Außerhalb der gewohnten Erwerbsarbeit keine Selbstverwirklichung!

Gibt es einen mittleren Grund, auf dem sich Politik bewegen kann? Für die ökonomischen Beziehungen stellt der Rheinische Kapitalismus einen Versuch dar, wirtschaftliche Freiheit und soziale Verpflichtung zu verbinden. „Eigene Wege gemeinsam gehen“, wie Merkel es nennt, könnte ein Motto sein für den Versuch, bei den persönlichen und familialen Beziehungen Autonomie und Verantwortung neu auszubalancieren, jenseits von Biedermeier und sozialer Seinsvergessenheit.

Paterfamilias Helmut Kohl hat die Partei beherrscht wie ein Gutsherr sein Gesinde

III. Der Aufbruch am Abgrund ist für die CDU ein riskantes Manöver. Die Spender der alten Konten bleiben vorläufig ebenso im Dunkeln wie die Fundamentalkritiker der neuen Politik. Aber die CDU hat wohl keine andere Wahl. Helmut Kohl hat eine Gesellschaft repräsentiert und eine Partei deformiert. Bei beidem war er nicht allein, stand er mitten im Leben seiner Partei und der Gesellschaft.

Der Berliner Abgeordnete Uwe Lehmann-Brauns brachte es auf den Punkt: „Wir haben 20 Jahre als Begünstigte seines Patriarchats gelebt und damit gut gelebt.“ Doch die Frage bleibt – und das Rätsel auch –, wie bei so vielen so lange die Unterwerfungsbereitschaft und die Mitläuferei, das Schweigen und die Schwäche zu erklären sind. Schwarze Konten, Schwarzgeld, Schwarzarbeit: Die Retrospektive gibt auch den Blick frei in den Abgrund einer Gesellschaft, die sich offensichtlich längst in einer etwas anderen Normalität eingerichtet hat. Steuern sind dazu da, sie nicht zu bezahlen, so oder so. Schwarze Kassen? Ein Depp, wer sie nicht hat noch beherrscht. Die Anfangsrhetorik von der „geistig-moralischen Wende“ hört sich nun an wie der ferne Trommelwirbel, unter dem ein soziales Klima des Vertrauens und der Verpflichtung zu Grabe getragen worden ist. An seine Stelle trat nach und nach eine Gesellschaft der wechselseitigen Vorteilnahmen und Tricksereien. Die einen haben den Steuer-, andere den Sozialstaat ausgenommen – eine Entwicklung, bei der am Ende alle schlechter dastehen.

Der frühere Kanzler hat diesen Niedergang nicht verursacht, aber er hatte ihm auch wenig entgegenzusetzen, nicht das Amt, nicht die Person, nicht den Anspruch seiner Politik. Die Korrosion der Institutionen, deren Rosten von innen her, derweil die Oberfläche blitzt und blankt: Er hat sie nicht aufgehalten, eher begünstigt. Nun liegt es ganz allein bei ihm, das Schicksal des früheren amerikanischen Präsidenten Nixon zu vermeiden. Niemand hat ihm je den Respekt für seine Außenpolitik versagt. Der Rest war nur noch peinlich. Bei der CDU wird man sehen, ob sie, bei der Reform des Bildungs- und des Sozialstaates etwa, auch dann zu einem neuen Aufbruch fähig ist, wenn sie nicht am Abgrund und nicht unter einem Schock steht. Warnfried Dettling