In der Nacht auf Montag ist endgültig Schluss mit dem Kolonialismus in China: Portugal gibt Macao zurück. Peking und Shanghai streiten bereits um das Erbe der Kolonialvergangenheit ■ Von Chikako Yamamoto und Georg Blume
: Große Zeit, endlich vorbei

Punkt Mitternacht am Sonntag wird auf dem Tiananmen-Platz in Peking die Stunde null schlagen. Man glaube aber nicht, dass der chinesische Mondkalender das Neujahr zur Jahrhundertwende vorverlegt hätte. Vielmehr verkündet die große Digitaluhr vor dem Revolutionsmuseum im Zentrum Pekings den genauen Zeitpunkt der Wiederherstellung chinesischer Unabhängigkeit. Und die ist erst erreicht, wenn mit Rückgabe des südchinesischen Kasinostädtchens Macao von Portugal an China am 20. Dezember die letzte europäische Kolonie im Reich der Mitte aufgelöst wird.

Eigentlich ist es für eine Unabhängigkeitsfeier reichlich spät. Das Zeitalter des Kolonialismus endete in China mit der Gründung der Volksrepublik am 1. Oktober 1949. Doch damals war man zum Feiern zu arm. So hat die Parteipropaganda, die seit Wochen die Rückgabe Macaos als Sieg kommunistischer Politik über die Vergangenheit preist, einen durchaus wahren Kern: Die meisten Chinesen freuen sich noch einmal, die Weißen endgültig nach Hause schicken zu können. Die Parteiformel von den „hundert Jahren Demütigung“, die der Westen und Japan seit dem Opiumkrieg von 1840 den Chinesen zugefügt haben, ist Unter- und Mittelschichten im Geiste haften geblieben. Nur die Elite des aufblühenden Reformkapitalismus macht heute eine neue Geschichtsrechnung auf: Für Unternehmer und Börsianer steht die Epoche, in der die Westmächte Hafenstädte entlang der chinesischen Küste aufbauten und China in den Welthandel einbanden, längst in Kontinuität zur Reform- und Öffnungspolitik, die 1978 von Deng Xiaoping eingeleitet wurde und bis heute andauert.

In diesem Sinne entpuppt sich die Rückgabe Macaos als Glücksfall: Denn zum ersten Mal nach 50 Jahren parteiverordneter Geschichtsfälschung dämmert in China ein Historikerstreit über Terror und Trost des Kolonialismus. Dabei wirkt die Auseinandersetzung wie ein Streit zwischen den beiden wichtigsten Metropolen: Das zweimal von den westlichen Kolonialmächten geplünderte Peking kann die „Schande der Nation“ bis heute nicht ad acta legen. Dagegen strotzt das von Kolonialmächten errichtete Shanghai vor Selbstvertrauen und will sich seiner Geschichte nicht schämen.

„Die Dreißigerjahre in Shanghai waren für uns eine goldene Zeit. Alle Chinesen sollten stolz auf sie sein“, sagt Sha Yexin, ein populärer Dramatiker und Drehbuchautor in Shanghai. Ganz anders blickt der Leiter eines Instituts der Pekinger Sozialakademie auf die erste Jahrhunderthälfte zurück: „Es begann damit, dass die Truppen der sieben Westmächte und Japans im Jahr 1900 in Peking einmarschierten und zehntausende von Zivilisten töteten.“

Die Erfahrungen sind selbst für eingefleischte Kommunisten widersprüchlich. Kaum einer von ihnen hat vergessen, dass ihre Partei 1921 im französischen Sektor von Shanghai gegründet wurde. Das war nur möglich, weil die Franzosen größere politische Freiheiten gewährten, als es sie in China bis zum heutigen Tag jemals gab. „Alle wichtigen kulturellen Werke Chinas in diesem Jahrhundert stammen aus der späten Kolonialphase, als westliche und chinesischen Künster und Intellektuelle im regen Austausch standen“, behauptet Sha. Der Theaterdichter hat deshalb in Shanghai das Lokal „Dreißigerjahre“ eröffnet, in dem jede Woche unter regem Publikumsandrang Kulturveranstaltungen stattfinden, die die alte Zeit in gute Erinnerung rufen.

In Peking hingegen werden Mittel- und Oberschüler regelmäßig auf einen „Platz für patriotische Erziehung“ im alten Sommerpalast geführt, wo ihnen die ungehemmte Zerstörungswut der Kolonialisten sinnbildlich vor Augen geführt wird. Der alte Sommerpalast des gelben Kaisers war einst das Prachtstück Pekings und galt als „Versailles als Ostens“. Engländer und Franzosen legten ihn 1960 in Ruinen. Für chinesische Verhältnisse ähnlich einprägsam und unvergesslich wie für Europäer ein Besuch in Auschwitz ist der Gang durch die völlig grundlos, aus reinem Kulturhass verwüstete Palastherrlichkeit. Aus den rieisigen Marmorsäulen, die zerbrochen am Boden liegen, sprechen die vergangene Größe Chinas und die Niedertracht, mit der der Westen ihr begegnete. „Wir dürfen die Schande der Nation nicht vergessen“, sagen zwei junge Soldaten, die der Anblick der Ruinen wütend macht. Ihresgleichen haben an Ort und Stelle deutliche Worte in den Marmor geritzt: „Irgendwann werden wir uns rächen“, sagen in Steinspalten versteckte Schriftzeichen. Und: „Wer schwach ist, wird verprügelt. Wir müssen Europa überholen.“

Zur Aufholjagd gegenüber dem Westen würden sich wohl auch Shanghaier Kapitalisten bekennen. Damit aber tritt die Ambivalenz des chinesischen Kolonialgedächnisses umso deutlicher hervor: „Einerseits hat man die westlichen Errungenschaften in Wissenschaft und Politik immer bewundert, auch im Hinblick auf Demokratie und Menschenrechte“, sagt Karl-Heinz Pohl, China-Forscher an der Universität Trier. „Andererseits wurden Europäer und Amerikaner fast ausnahmslos als arrogant und habgierig erlebt.“

So ist die Frage nach dem richtigen Umgang mit der Vergangenheit zwischen China und dem Westen noch lange nicht beantwortet. Zwar vollzieht sich das Ende des Kolonialismus in Macao im Gegensatz zu der mit englischen Gouverneurstränen begossenen Rückgabe Hongkongs eher versöhnlich. Doch die eigentliche Abrechnung steht noch aus. Der KP-Vordenker Shang Dewen deutet das im taz-Interview (s. u.) mit sehr viel Understatement an: „Eine Entschuldigung der Engländer für ihre Kolonialverbrachen wäre milde und hilfreich.“ Die ist bis heute nie erfolgt.

Noch hat Macao nicht verloren: Am 23. Dezember wird China seine fußballerische Dominanz gegenüber der Ex-Kolonie unter Beweis stellen müssen. Die Mannschaft Macaos wird verstärkt von dem Italiener Franco Baresi, dem Brasilaner Carlos Dunga und dem Freizeitsportler Jürgen Klinsmann.