„In der Welt wimmeltes von Idioten“

Stanislaw Lem ist bei den gebildeten Schichten der populärste Sciencefiction-Autor. Romane wie „Solaris“ und „Eden“ waren Bestseller. Und sie haben unseren Blick für totalitäre Versuchungen, die in neuen technischen Möglichkeiten wie dem Internet stecken, sensibilisiert. Kurz vor dem Millenniumswechsel zieht er eine traurige und wütende und weise Bilanz seiner Vorhersagen. In seinem Haus in der Nähe Krakaus besuchte ihn Mechthild Bausch

Herr Lem, wissen Sie, was eine Suchmaschine ist?

Stanislaw Lem: Ja. In diesem Raum steht zwar nur eine sehr alte Schreibmaschine, aber nebenan befinden sich Computer, Scanner, Fax, Drucker und Anschluss ans Internet. Ein Sekretär arbeitet für mich. Ich versuche die ganze Last der Verzweigung in die Welt auf andere abzuschieben, denn ich kann das nicht alles bewältigen. Ich habe vor ungefähr elf Jahren aufgehört Sciencefiction zu schreiben und interessiere mich für andere Dinge, Philosophie der Wissenschaft und Internet.

Haben Sie damit gerechnet, dass Ihre Visionen Wirklichkeit werden?

Man kann die Richtung, aber nicht die Einzelheiten voraussagen. Ich habe die Hinwendung zur Biotechnologie, zur Nachahmung realer Lebensprozesse, zutreffend vorausgesagt. Aber wie tückisch das alles ist, konnte ich nicht wissen.

Außerdem stammt von Ihnen der Begriff „Phantomatik“.

Ja, heute verstehen wir darunter „virtuelle Realität“. Als ich vor 36 Jahren ein Buch darüber schrieb, zweifelte ich nicht daran, dass man einen Himalaya oder ein Labyrinth würde programmieren können und mit mehr Geld einen Jurassic Park voller Dinosaurier. Aber sie können kein intelligentes Wesen programmieren, mit dem sie reden können. Das wusste ich.

Wird es solche Wesen einmal geben?

Zuerst müsste man Programme für künstliche Intelligenz haben, deren Erfindung ich einer sehr fernen Zukunft, wenn überhaupt, zugeschrieben habe. Wäre Sie konstruierbar, müsste es zudem sehr viele Sorten davon geben, so wie es viele Sorten menschlicher Intelligenz gibt. Es gilt, was Wittgenstein gesagt hat: Worüber man nicht sprechen kann, darüber soll man schweigen. Aber die Leute schreiben heute unglaubliche Dinge. Ein Chirurg behauptet, man könnte Menschen den Kopf abschneiden und einen anderen Kopf annähen. Erstens ist das unmöglich, und allererstens ist es idiotisch. Es würde ein ganz anderer Mensch entstehen.

Zählt Erfolg für Visionäre?

Ich muss gestehen, es gibt eine Sorte so genannter Gelehrter, die ich immer sehr wenig geschätzt habe, die so genannten Friedensforscher und Politologen. Sie haben nicht zu friedlichen Lösungen beigetragen, sondern Bücher geschrieben.

Sie haben sich mal als Robinson Crusoe der Futurologie bezeichnet. Haben Sie Ihre Insel verlassen?

Ich sitze um Gottes willen nicht auf einer menschenleeren Insel. Ich korrespondiere viel und versuche mit den Leuten im Gespräch zu sein. Es wimmelt in der Welt von Idioten. Mit Herrn Trittin würde ich niemals über die negativen und positiven Seiten der Atomenergie sprechen, weil er keine Ahnung hat. Dummköpfe erkennt man daran, dass sie nicht wissen, dass sie Dummköpfe sind und sich mit keinem Argument überzeugen lassen.

Was kann man dagegen ausrichten?

Ein einzelner Mensch kann sich nicht für die Gesellschaft verantwortlich fühlen. Die ganze Welt ist eine einzige Katastrophenlandschaft. Das war immer so. Nur die Technologie, derer wir uns bedienen, ist mächtiger geworden. Früher konnte sich die Menschheit nicht durch Klimaveränderung und nuklearen Krieg den Garaus machen, heute kann sie das. Es gibt zu viele Menschen auf dem Erdball. Als ich aufs Gymnasium ging, gab es zwei Milliarden Menschen, heute sind es sechs. Es ist auch typisch, dass für Katastrophen niemand belangt wird. Wenn jemand eine Uhr klaut, kommt er in den Knast, jemand, der drei Millionen Menschen umbringt, nicht. Je größer die Gräueltaten, desto kleiner die Folgen.

Wie kann ein so weiser Mann so pessimistisch urteilen?

Pardon, wer?

Sie.

Aber das tue doch ich nicht immer. Wissen Sie, als die Sowjetunion kollabierte und wir die Souveränität in Polen bekamen, waren meine Frau und ich zu Tränen gerührt, als wir die ersten freien Sitzungen des Parlaments sehen konnten. Jetzt haben wir auch Tränen in den Augen, aber Tränen der Wut, weil so dermaßen dumme Leute da als gewählte Parlamentarier sitzen. Wie Churchill sagte: Demokratie ist zwar entsetzlich, aber es gibt kein besseres System. Man hat es noch nicht gefunden.

Desillusion als Jahrhundertbilanz?

Die Leute glauben, dass es besser wird. Aber die Unbarmherzigkeit, die Grausamkeit der Zeit vergrößert sich. Ich sehe jetzt weit weniger fern als früher. Es ist eintönig, und es wird immer geschossen. Man weiß nicht, ist das Attentat echt oder gespielt. Die ruhigste Landschaft befindet sich in der Werbung. Da kommt ein Mädel, isst ein bisschen Reis oder Makkaroni und hat sofort einen Orgasmus aus purer Freude, weil es so gut geschmeckt hat. Mein Sekretär hat mir geraten, kaufen Sie sich einen Digitalumformer, dann werden Sie nicht zwanzig, sondern achtzig Programme haben. Was soll ich damit?

In Ihren Romanen wimmelt es von Zukunftstechnologien. Steht Ihre heutige Kritik dazu nicht im Widerspruch?

Ich sehe keinen Widerspruch. Ich habe immer das geschrieben, was mich interessierte, belletristisch und in meinen Sachbüchern. In den letzten Jahren habe ich schon zwei Bücher über die Probleme des Internet geschrieben.

Das Sie sehr kritisch beurteilen und als „Infoterrorismus“ bezeichnen. Ist das nicht ein wenig paranoid?

Es gibt diesen Terrorismus. Die Terroristen benutzen die technologischen Werkzeuge, die vorhanden sind. So ist der Mensch geschaffen, mit dem Bösen in seinem Innern. Man redet von einem zukünftigen Krieg als von einem Informationskrieg.

Benutzen Sie selbst inzwischen das Internet?

Nein, das überlasse ich meinem Sekretär. Soll er sich damit abquälen.

Aber warum nutzen Sie nicht die technischen Möglichkeiten, die Sie selbst vor 25 Jahren beschrieben haben?

Es gibt keine Intelligenz im Netz. Was kann man da schon herausfinden? Das ist ein Ozean an Informationen, und wir stehen mit einem Löffel davor. Ich habe auch gar keine Zeit. Ich bekomme Bitten um Autogramme, Aufnahmen, Interviews. Aber ich bin doch kein Filmstar. Als ich in den Vierzigerjahren anfing zu schreiben, war ich ein einfacher Medizinstudent. Das ist alles wie eine Lawine über mich gekommen. Ich nörgle ja nicht, aber das hat alles schon lange eine Eigendynamik.

Fühlen Sie sich überfordert?

Soll ich klatschen? Soll ich glücklich sein? Wenn man sich die Zukunft allzu rosig und optimistisch vorstellt, erweist sich das meistens als falsch. Jetzt ist eine von mir absolut niemals vorausgesagte Mode aus Japan gekommen: diese Tamagotchis. Wozu braucht man elektronische Katzen? Es gibt Leute, die Alligatoren zu Hause haben. Bitte schön. Künstliche Maschinenwesen halte ich dagegen für reinen Unsinn. Aber die Leute mögen reinen Unsinn.

Warum haben Sie, was die nachfolgenden Generationen angeht, so wenig Ahnung, Zutrauen oder beides?

Wieso? Sehen Sie, hier ist ein schönes Bild meiner Enkelin. Bitte sehr! Es ist sehr schön.

Warum können Sie sich nicht vorstellen, dass jüngere Menschen mit Technologien selbstverständlicher umgehen und nicht sämtliche positive Erlebniswelten verlieren, wie Sie fürchten?

Weil ich von allen Seiten nur höre, dass es schlimmer wird. Wir sind umzingelt von Problemen. Es gibt Probleme wie Erdbeben und Taifune, gegen die wir machtlos sind, und solche, gegen die wir versuchen, etwas zu unternehmen, wie zum Beispiel gegen die Arbeitslosigkeit, aber auch das mit wenig Erfolg.

Null Vertrauen in die Menschheit?

Aber ich bitte Sie! Der Zweite Weltkrieg hat fünfzig Millionen menschliche Opfer gekostet. Das weckt in mir kein großes Vertrauen in die Menschheit.

Ich fragte nicht nach den Generationen, die zwei Kriege angezettelt haben.

Glauben Sie, dass ich meinen Sohn hierhin setze, wo Sie jetzt sitzen, und ihm erkläre, dass es sich nicht lohnt zu leben?

Nein.

Also. Und ich habe nicht das Gefühl, dass ich etwas anderes beschreibe als das, was der Fall ist. Ich habe das Internet nicht erfunden. Ich habe die Hacker nicht erfunden und niemandem Viren geschickt. Werden Sie krank, können Sie nicht die Mikroben anklagen. Sie sind ein Bestandteil dieser Krankeiten. Die Menschheit ist eine Gattung, die sich selbst sehr viel Schaden bringt.

Sie haben vierzig Bücher verfasst ...

... und glaube, mit ihnen das Meinige getan zu haben. Aber die Leute lassen mich nicht in Ruhe. Nach Möglichkeit mache ich alles, worum man mich bittet, aber nicht, um andere mit meinen Sorgen zu beschweren. Die Philosophie der Wissenschaft, mit der ich mich gerade beschäftige, ist weder pessimistisch noch optimistisch. Das hat mit moralischen Kriterien nichts zu tun. Ich bin ja auch kein Moralist.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

Vor dem Tod? Wissen Sie, bekanntlich sterben immer die anderen. So lange ich lebe, gibt es meinen Tod nicht, und wenn ich sterbe, so gibt es mich nicht und tschüss. Nein, das Schlimme ist nicht mein Tod, das Schlimme ist der Tod derjenigen, die ich liebe. Das ist schrecklich.

Würden Sie Ihr Leben mit Hilfe von Technologie verlängern lassen?

Weiß ich nicht. Alles, was ich habe, habe ich mir alleine erarbeitet, und das genügt mir vollauf. Ich habe als junger Mann schwierige Zeiten erlebt. Wenn man jung ist, kann man weit mehr ertragen als wenn man alt ist.

Haben Sie viel gesehen von der Welt?

Ich habe so viel gesehen, wie sich meine Frau wünschte, denn ich selbst reise nicht gern. Nach Amerika wollte ich nicht reisen, aber ich war in Schweden, Griechenland, Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland und Russland. Aber ich mochte das nie, in Hotels wohnen, Krawatten tragen ...

Würden Sie sich ein anderes Leben wünschen?

Ich würde mir ein anderes Leben nur in diesem Sinne wünschen: ohne Kriege. Und natürlich wäre es weit besser, wenn es keine Arbeitslosigkeit gäbe. Aber ich bin ja nicht im Stande, daran etwas zu ändern. Man kann Verantwortung spüren für Leute, die für einen arbeiten und die einem leben helfen. Aber man kann sich nicht vorstellen, dass man für sechs Milliarden Menschen verantwortlich ist.

Mechthild Bausch, 34, Anfang der Neunzigerjahre Kulturredakteurin bei der taz Hamburg, lebt als freie Autorin in Hamburg