Warten auf den Antichristen

Im Jahr 1000 gab es keine Hysterie um das Millennium. Silvesterpartys waren unbekannt, Feuerwerkskörper ohnehin. Die Menschen, wenn sie denn gebildet waren und einen Begriff von der Zeit hatten, erwarteten die Ankunft des Jüngsten Gerichts. Den meisten Menschen des Mittelalters jedoch war ein Jahreswechsel egal. Ein Rückblick auf eine unaufgeklärte Zeit von Hannes Koch

Es regnete Blut. Drei Tage lang. Die Menschen konnten es ganz deutlich sehen. Wie es auf ihren Kleidern und auf den Steinen klebte und sich nicht abwaschen ließ. Nur vom Holz der Dächer und Wagen konnte man es entfernen. Ob die Bewohner von Aquitanien, des Herzogtums bei Bordeaux, den Verstand verloren, ob sie sich nach diesem Furcht erregenden Ereignis zitternd in den Kirchen und Klöstern zusammenkauerten, ist nicht überliefert.

Durch ein Schreiben blieb der Nachwelt aber erhalten, wie die Elite vor tausend Jahren über das Ereignis dachte. Robert der Fromme (996 – 1031), König von Frankreich, hatte Gauzlin, Erzbischof von Bourges, gebeten, ihm die Zeichen der Natur zu interpretieren. Der Gelehrte kam zu dem Schluss, dass sich Schreckliches ankündige: ein Bürgerkrieg, mindestens. Wenn nicht gar das Ende der Welt. Gauzlin schickte dem Herrscher seinen Segen.

Die Zeitgenossen der letzten Jahrtausendwende beobachteten die Natur genau, um Hinweise zu erhalten, die ihnen helfen sollten, Gegenwart und Zukunft zu verstehen. Dem französischen Mönch Ademar von Chabannes etwa erschien in jener Zeit am Südhimmel ein gewaltiges Kruzifix. Der gekreuzigte Jesus blutete und weinte, so wie er es empfand, bitterlich. Ademar war sich bald sicher, dass sich ihm die nahende Apokalypse angekündigt habe.

Die Menschen um das Jahr 1000 lebten in Unruhe und Angst, die wohl auch so manche Erscheinung und Legende hervorriefen. Die Befürchtungen überstiegen, so interpretiert der Historiker Johannes Fried die Quellen, die der vorangegangenen und nachfolgenden Generationen um einiges.

Zwar stammt die Überlieferung in Schriften und Kunstwerken ausschließlich aus der extrem schmalen gebildeten Schicht jener Zeit. Doch muss man davon ausgehen, dass mit Hilfe der Predigten in den Kirchen die bei der Obrigkeit gehegte Furcht auch bei ihren Beherrschten durchaus präsent war. Das Bangen um eine Zukunft jenseits des Jahrtausendwechsels hatte biblisch fundierte Gründe.

In der Offenbarung des Neuen Testamentes heißt es: „Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in seiner Hand. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, das ist der Teufel und Satan, und band ihn tausend Jahre. Danach muss er los werden eine kleine Zeit.“

Man nahm diese Bibelstelle ernst, sehr ernst. Tausend Jahre nach Christus schien die irdische Zeit sich zu erfüllen, der Teufel wiederzukehren und die Welt, so wie man sie kannte, in ein großes, schwarzes Loch zu stürzen.

Ohnehin dehnte sich die Zeit in der damaligen heilsgeschichtlichen Vorstellung nicht wie heute als Kontinuum über Jahrmillionen in Vergangenheit und Zukunft, sondern besaß mit der Schöpfung einen vergleichsweise nahen Anfang und ein ebensolches Ende: das göttliche Weltgericht. Je näher das Ende des ersten christlichen Millenniums rückte, desto höher stieg die Woge der Untergangserwartung, um später nur langsam abzuebben.

Abt Odo, der Vorsteher des berühmten Klosters von Cluny im französischen Burgund, warnte damals in einem Brief an den Bischof von Verdun: „Jetzt schon kommt die Zeit des Antichristen.“ Wagte heute jemand eine solche Prognose wagen, würde er nicht ernster genommen als ein Zeuge Jehovas.Wann dieses „Jetzt“ aber genau sein würde, wusste niemand so genau. Die Gebildeten waren sich uneinig, ob die tausendjährige Zeitspanne von Jesu Geburt oder Tod an zu berechnen sei. Außerdem bestand erhebliche Unsicherheit darüber, wann innerhalb der christlichen Zeitrechnung diese Ereignisse überhaupt stattgefunden hatten.

So kalkulierte die Oberschicht des damaligen Abendlandes mit einer endzeitlichen Periode, die etwa die Jahre von 979 bis 1034 umfasste. Aber so genau wollte den Zeitpunkt der apokalyptischen Herankunft auch niemand wissen. Die Präzision der biblischen Weissagung reichte den meisten. In Matthäus 24,36 steht geschrieben: „Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel nicht im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der Vater.“

Man verstand dies, und darauf legte die Kirche großen Wert, als Warnung, sich nicht über das menschliche Maß zu erheben. Das Ende der Welt würde kommen, sozusagen automatisch, wie das Amen in der Kirche. Doch galt es zunächst, den Untergang ehrfürchtig zu erwarten, wann immer er auch hereinbrechen sollte. Damit liegt auf der Hand, dass es die große Silvesterparty am Ende des menschlichen Universums nicht gab, nicht geben konnte.

Auf das vordergründige Datum des 25. Dezember 999 – der Jahreswechsel wurde damals oft Weihnachten gefeiert – kam es nicht an, entscheidend war der Ablauf der biblischen tausend Jahre. Wann das aber sein würde, lag im Dunkeln.

Besonders aus dem heutigen Frankreich weiß man, dass die Menschen ihr 10. Jahrhundert, wie auch die vorhergehende Zeit, vielfach als Periode der Drangsal empfanden. Die halbwegs stabile Ordnung des karolingischen Zeitalters war verloren. Die lokalen Herrscher machten, was sie wollten und nahmen ihre Leibeigenen nach Strich und Faden aus. Jahrzehntelang hatten an den nördlichen Küsten die Wikinger Dörfer und Gehöfte niedergemacht, und die Bauern im Reich wurden von umherziehenden Heeren massakriert, die aus dem heutigen Ungarn kamen.

Die Moral schien manchem reflektierten Zeitgenossen am Boden zu liegen, dies ist womöglich keine zufällige Parallele zum heutigen Zeitgeist. Auch suchte man das Schlechte, Verdorbene – und fand es auch. Von der allgemeinen endzeitlichen Unruhe beflügelt, sah manch ein Mönch hinter jeder Ecke den Satan lauern. Der unbekannte Autor des wohl in den Sechzigerjahren des 10. Jahrhunderts im französischen Laon entstandenen „Dialog über den Zustand der heiligen Kirche“ beklagt, dass Abteien von weltlichen Herrschern usurpiert und die christlichen Reichtümer verschleudert würden. Ungeweihte Bischöfe äßen und tränken die Opfergaben, die für die Armen bestimmt seien. „Ihr nennt sie Christen, in Wahrheit sind sie Antichristen“, heißt es am Ende der beißenden Kritik an der Pfründenwirtschaft des geschäftsführenden Klerus.

Als dann der arabische Herrscher al-Hakim (996 – 1021) die Grabeskirche in Jerusalem schließen oder sogar zerstören ließ, war vielen klar: Das Ende der weltlichen Geschichte musste gekommen sein. In al-Hakim sah man den personifizierten Antichristen, der das finale Chaos einläutete. Bald danach würde das Jüngste Gericht kommen und Gott die Menschen vor sich treten lassen, um die Sünder in die Hölle zu stoßen und die Erwählten ins Himmelreich zu berufen.

Den Zeitgenossen war diese Erwartung absolut geläufig, sie gehörte zum Lebensalltag. Diesem vorbestimmten Schicksal konnte man nicht entrinnen. Man rechnete so sicher damit, dass man sich ein erfolgreiches Jüngstes Gericht wünschte, wie es etwa ein Briefschreiber an die Adresse des Erzbischofs Sigerich von Canterbury tat.

So entfernt das letzte Milleniumsende auch sein mag, so drängt sich doch die Ähnlichkeit seiner wesentlichen Gedankenfigur mit den modernen geistigen Schwankungen unserer Zeit auf. Die vorgestellte Abfolge von Niedergang, Reinigung und Erlösung war und ist nicht den Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts vorbehalten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts spielte sie ebenso eine Rolle. Nicht wenige Einwohner der konkurrierenden und sich bekriegenden Industrienationen Europas wünschten um 1900 ein reinigendes Gewitter herbei, eine große Säuberung, Klärung und Entscheidung, die in Gestalt des Ersten Weltkrieges auch bald über sie hereinbrechen sollte.

In den Siebziger- und Achtzigerjahren dieses Jahrhunderts, immerhin kurz vor dem jetzt anstehenden Millennium, war es in Westdeutschland modern, den Weltuntergang zu beschwören – als Ergebnis eines Atomkriegs oder der globalen Umweltzerstörung. Der Bericht über die „Grenzen des Wachstums“ für den Club of Rome prognostizierte den Zusammenbruch der uns bekannten Ordnung, falls nicht innerhalb kurzer Zeit ein radikaler Wechsel eintrete – das Orakel trat bis heute nicht ein.

Während man heute mit Politik und Ökonomie die weltliche Erlösung zu erreichen trachtet, war dieser Weg den Menschen des 10. Jahrhunderts noch unbekannt. Sie suchten nicht nach dem Notausgang, weil sie ihn sich nicht vorstellen konnten. Auch sie fühlten sich aufgewühlt und wollten etwas tun, doch sie strebten vornehmlich danach, eine gute Position vor dem Jüngsten Gericht zu erhaschen.

In der Aufbruchzeit des 10. Jahrhunderts gründeten adelige Mönche das Kloster Cluny in Burgund, das fortan die Reinheit des christlichen Lebenswandels predigte und lebte, die viele Zeitgenossen in ihrem erbärmlichen Leben vermissten. Hunderte neuer Klöster schossen in jener Zeit aus den französischen und deutschen Wäldern – nicht selten durch großzügige Stiftungen der vermögenden Herrschaften, die dadurch hofften, den Ewigen milde stimmen zu können.

Die religiös motivierte Angst des 10. Jahrhunderts, die die kulturelle Erneuerung in Gang gesetzt hatte, schaffte es durch diese schließlich, sich selbst zu überwinden. Die Menschen taten gute Werke, büßten, sühnten und beteten inbrünstig. Sie erkannten: Es war gut so. Denn nichts passierte, was als eine göttliche Strafe hätte gedeutet werden können.

Jedenfalls kam das Ende nicht – im damaligen Fühlen vielleicht eine christliche Enttäuschung, aber auch eine Erleichterung. Eine, die zusammen mit vielen weiteren den Glauben langfristig, sehr langfristig entbehrlich erscheinen lässt.

Hannes Koch, 38, ist Ökoredakteur der taz und lebt in Berlin. Der Hobbymusiker feiert am 31. Dezember nichts als den Übergang ins nächste Jahr

Literatur: Johannes Fried: Endzeiterwartung um die Jahrtausendwende, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, Bd. 45, hrsg. von Horst Fuhrmann, Hans Martin Schaller. Köln/Wien 1989. Großartig ist Die Geschichte der Zukunft des französischen Religions- und Sozialhistorikers Georges Minois. Dieses Buch über „Orakel, Prophezeiungen, Utopien, Prognosen“ (Artemis & Winckler, Düsseldorf/Zürich 1999, 832 Seiten, 88 Mark) bietet eine profunde und zudem gut lesbare Analyse der (nicht nur abendländischen) Vorstellungen vom dem, was morgen sein wird.