Kaufrausch und Tütendiebe ■ Von Ralf Sotscheck

Schenken macht Freude. Einkaufen immer weniger. Seit die Iren wegen ihres Wirtschaftswunders zu Geld gekommen sind, hat der weihnachtliche Kaufwahn verblüffende Ausmaße angenommen. Hinzu kommt ein fieser Dubliner Verkehrsdirektor, der mit irrem Kichern versprach, Autofahrern das Leben zur Hölle zu machen, und sein Versprechen flugs in die Tat umsetzte. Da öffentliche Verkehrsmittel so rar sind wie Sardinen in der Sahara, ist die Innenstadt seit Anfang Dezember dicht. An den Wochenenden, als die Landeier über das hauptstädtische Shopping-Paradies herfielen, kam der Verkehr schon morgens um neun zum Stillstand. Zwei Stunden lang ging nichts mehr, während ein findiges Unternehmen Mail-Order-Kataloge verteilte.

Geschenke aus dem Katalog zählen aber nicht, man muss sie erkämpfen, das war schon immer so. Zwar hatten die Iren früher weniger Geld, aber zu Weihnachten wurden alle Kreditmöglichkeiten angezapft, sodass man das Weihnachstfest bis zur nächsten Runde nicht vergessen konnte. Carmel, eine Bekannte, erwischte der Kaufrausch immer besonders schlimm. Als das erste irische Einkaufszentrum in Cornelscourt bei Dublin in den 60er-Jahren aufmachte, stürzte sie sich als Erste ins Gedrängel, um Präsente sowie Nahrungsmittel für eine Kompanie einzukaufen. Man konnte ja nie wissen, wer über die Feiertage vorbeischauen würde.

Jedenfalls hatte sie ihren Einkaufswagen randvoll mit braunen Papiertüten – es war noch vor der Erfindung von Plastiktüten – gepackt. Während sie den Kofferraum belud, sah sie eine Frau, die unschlüssig auf und ab ging und eine braune Papiertüte anvisierte, die auf der Kühlerhaube eines anderen Autos stand. Offenbar hatte jemand seine Einkäufe vergessen. Im nächsten Moment griff sich die Frau die Tüte und ging mit zügigen Schritten zu ihrem eigenen Auto. „Das nenne ich Weihnachtsgeist“, dachte sich Carmel, „da klaut sie irgendeiner armen Person die volle Einkaufstüte.“

Als Carmel endlich mit dem Verpacken ihrer Einkäufe fertig war, fuhr ein Krankenwagen vor. Die Sanitäter sprangen heraus und liefen zum Auto der Tütendiebin, die offenbar in Ohnmacht gefallen war, bevor sie das Weite suchen konnte. Passanten hatten Hilfe geholt. „Geschieht ihr recht“, dachte sich Carmel. Die Sanitäter schoben die Frau in den Krankenwagen, als einer von ihnen die braune Tüte neben dem Auto liegen sah. Er hob sie auf und legte sie zur Ohnmächtigen auf die Tragbahre.

Zwei Tage später sprach Carmel bei der Arbeit mit einer Kollegin. Ihr sei etwas Merkwürdiges passiert, erzählte die Kollegin. Sie habe auf dem Weg zum Einkaufen eine Katze überfahren, hielt an und klopfte an den umliegenden Häusern, um den Besitzer zu ermitteln. Eine ältere Dame bestätigte schließlich, dass es sich um ihre Katze handelte, bat die Kollegin jedoch, sie zu entsorgen, weil die Enkelkinder das tote Tier nicht sehen sollten. Carmel ließ sich eine braune Papiertüte geben. Als sie beim Einkaufszentrum angekommen war, stellte sie die Tüte vorübergehend auf der Kühlerhaube ab, damit sich der Geruch der toten Katze nicht im Auto ausbreiten konnte. „Stell dir vor, als ich mit meinen Einkäufen zurückkam, war die Katze samt Tüte verschwunden.“