Junge Männer in der Krise

Die Städte-Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer über Jugendkriminalität, Macho-Kultur und Gewalt in türkischen Familien: ein neuer Tabubruch? ■ Von Eberhard Seidel

So nah ist den Deutschtürken bislang keinWissenschaftler auf die Pelle gerückt. Das tut weh

Die Wahrheit lässt sich nicht unterdrücken.“ Kurz und knapp fällt die Antwort von Christian Pfeiffer auf die Bedenken von Emine Demirbüken, Ausländerbeauftragte in Berlin-Schöneberg, aus: „Die Ergebnisse Ihrer Studie sind sehr interessant, aber befürchten Sie nicht, damit den Argumenten der Rechtsradikalen Vorschub zu leisten?“

Pfeiffer hat ein Tabu gebrochen. Ungeschminkt beschreibt er auf einer Tagung zum Thema Integration die Kehrseite von Einwanderung aus Ländern mit ausgeprägter Macho-Kultur. In den Neunzigerjahren ist die Migration aus Südeuropa und der Türkei fast ausnahmslos für den Anstieg des Gewaltnivaus der (west-)deutschen Gesellschaft verantwortlich. Türkische Jungmänner begehen dreimal häufiger Gewaltdelikte wie deutsche. Sie tun das nicht nur als eine Reaktion auf Diskriminierung und Ausgrenzung, sondern weil sie unter ihrem problematischen Männerbild leiden.

So nah ist den Deutschtürken noch kein Wissenschaftler auf die Pelle gerückt. Das tut weh, irritiert. „Vorsicht, hier kommt ein türkischer Mann“, witzelt ein türkischer Mann nach dem Vortrag. „Ich habe Schwierigkeiten mit dem Pfeiffer“, murmelt ein grüner Berufspolitiker und verfällt zunächst in Schweigen. Denn die Ergebnisse des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover (KFN) sind bestechend und bieten wenig Angriffsflächen für Kritik.

Wie entwickelte sich die Jugendgewalt in den Neunzigerjahren in Deutschland? Das KFN wollte es möglichst genau wissen. Rund 20.000 Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren wurden deshalb 1998/1999 in Kiel, Hamburg, Hannover, Stuttgart, Schwäbisch Gmünd, Leipzig, Wunsdorf, Lilienthal und München befragt. Akten der Staatsanwaltschaften studiert und polizeiliche Kriminalstatistiken ebenso ausgewertet wie die Statistiken der Gerichte.

Zunächst die frohen Botschaften. Erstens: Der Anstieg der Jugendgewalt fällt seit 1984 schwächer aus, als die polizeilichen Statistiken das nahe legen. Nicht um das 3,3-fache ist die Zahl der Delikte gestiegen, sondern „nur“ um das Doppelte. Zweitens: Die Gewalt junger Männer ist in den letzten Jahren nicht brutaler geworden. Seit 1990 hat die durchschnittliche Deliktschwere sogar abgenommen. Nun zum Unangenehmen: Der Anstieg der Gewalttaten in den Neunzigerjahren ist zu 80 Prozent Tätern mit niedriger Schulbildung zuzurechnen, die von relativer Armut, sozialer Ausgrenzung und schlechten Integrationsperspektiven bedroht sind. Die Ergebnisse der Studien decken sich mit den Erkenntnissen aus vergleichbaren Untersuchungen in Frankreich, England und der Schweiz. Auch diese bestätigen, dass die westlichen Gesellschaften immer mehr zu einer Winner-Loser-Kultur werden, in denen vor allem junge Migranten ins soziale Abseits geraten.

Die Folge: In einer Stadt wie Hannover geht der zwischen 1990 und 1996 beobachtete Anstieg von Gewaltdelikten zu über 95 Prozent auf das Konto von Migranten, jugendlichen Aussiedlern und eingebürgerten „Ausländern“. Sie werden umso gewalttätiger, je länger ihr Aufenthalt in Deutschland andauert. „Kein Ruhmesblatt für den Integrationsprozess im Land“, lautet Christian Pfeiffers Fazit.

Tatsächlich gibt es einen engen Zusammenhang zwischen der Integrationspolitik einer Kommune und der Gewalt. So schlagen junge Türken in Schwäbisch Gmünd häufiger zu als in Stuttgart. „Das ist kein statistischer Zufall, sondern Folge unterlassener oder angebotener Integrationsmaßnahmen“, so Pfeiffer. Und da leistet Stuttgart nachweisbar mehr als Schwäbisch Gmünd, wo die schulischen Leistungen türkischer Schüler schlechter sind als andernorts. „Ausländer danken es ihrer Stadt, wenn sie sich um sie kümmert“, schließt Pfeiffer seine Ausführungen über die sozialen Ursachen der höheren Gewaltbereitschaft junger Türken ab.

Allerdings, das ist das eigentlich Brisante der Studie, lässt sich die Gewaltbelastung türkischer Jungmänner nicht nur aus sozialen Ursachen herleiten. Träfe dies zu, müssten auch junge Türkinnen gewalttätiger sein als ihre deutschen Alterskameradinnen. Dem ist aber nicht so. Und vergleicht man die Gruppen nicht nur nach ethnischer, sondern auch nach sozialer Zugehörigkeit, zeigt sich: Auch bei deutschen und türkischen Jugendlichen, die aus einem ähnlichen sozialen Milieu und einer vergleichbaren Bildungsschicht stammen, bleiben die Unterschiede gravierend.

Pfeiffer macht dafür eine „Macho-Kultur“ verantwortlich, die das innerfamiliäre Klima bestimmt. Unabhängig von der Herkunft gilt die Regel: Je häufiger Jugendliche innerfamiliäre Gewalt erleben, desto wahrscheinlicher ist es auch, dass sie selbst gewalttätig werden. Und da sieht es in türkischen Familien katastrophal aus.

Gewalt gegenüber den Ehepartnern und den Kindern wird in türkischen Familien wesentlich häufiger als in deutschen ausgeübt. 25 Prozent der türkischen Kinder gaben an, von ihren Eltern schwer gezüchtigt zu werden. „So, dass Blut fließt“, meint Pfeiffer lakonisch. Bei den deutschen Kindern sind es sieben Prozent. Häufige Gewalt zwischen den Eltern beobachteten 21 Prozent der türkischen Jugendlichen, in weiteren 12 Prozent der Familien kommt dies eher selten vor. Die Vergleichszahlen in deutschen Familien betragen jeweils fünf Prozent.

Auch bei der innerfamiliären Gewalt gilt: Sie nimmt an Häufigkeit mit der Dauer der Migration zu. Pfeiffer erklärt dies mit einem inneren Kulturkonflikt. Je länger die Familien in Deutschland leben, desto stärker gerät ein Teil der türkischen Männer in die Krise. Zum einen weil sie nicht die gesellschaftliche Position und den Status einnehmen können, den sie für sich reklamieren. Zum anderen wächst die Autonomie der Frauen und vor allem der Töchter, die in ihren Bildunsgabschlüssen und -erfolgen die Söhne bereits weit hinter sich gelassen haben.

Pfeiffer hofft nun auf eine breite Debatte innerhalb der türkischen Gemeinschaft. Er setzt auf Vertreter wie die grüne Bundestagsabgeordneten Ekin Deligöz und Cem Özdemir, die ihre Unterstützung zusagten. Und auf eine Diskussion in der Türkei, wo seine Untersuchung auf ein breites Interesse vor allem unter Frauen stößt.