Handgepäck für das nächste Jahrtausend
: Schöner Schellack

Kulturnischen sind zukunftstauglich

Einmal war ich in Hamburg-St. Pauli in einer Bar, in der Kneipengänger um die Dreißig, sich angeregt von Schellackplatten unterhalten ließen. Einige wippten mit dem Fuß, einige tanzten, andere tranken wie immer. Und die Schellackplatten drehten sich dazu auf zwei Grammofonen im Kreis, als gehörten sie selbstverständlich in die Neunzigerjahre. Dieses Jahrhunderts. Spätestens seit dem netten Abend, der sich damals entwickelte, überzeugen mich Untergangsszenarien nicht mehr recht. Was hört denn schon wirklich auf? Irgendeine Nische findet sich immer, in der eine kulturelle Praxis, eine Technik oder ein bestimmtes Wissen weiter gepflegt wird. Auf irgendeinem Parkplatz wienern Autoliebhaber gerade ihre Käfer. In der Politik überwintern vormoderne Gesellschaftsstrukturen wie die der patriarchalen Günstlingswirtschaft. In manchen Innenstadtbereichen unserer Städte kann man sogar noch Punker sehen. Und in St. Pauli wippen sie im Schellacksound. Alles macht weiter. Das hat, recht besehen, auch etwas Beruhigendes.

Nur eines hört am 1. Januar 2000 definitiv auf: das Jahr 2000 als Zukunftsmarke. Natürlich hat man nie wirklich auf diesen Termin hin gelebt. Aber immerhin konnte man sich sicher sein, da kommt noch was. Dass da noch etwas passieren würde, ein Jahrtausendwechsel nämlich, das gehörte zur Basis, auf der sich der Alltag abspielte. Und hin und wieder hat der Vorschein des Ereignisses auch ganz konkrete Auswirkungen in der Gegenwart gehabt. In irgendeinem Deutschaufsatz werde ich mal gefragt worden sein, wie ich mir die Welt im Jahr 2000 vorstelle. Und so wie einem beispielsweise der Sternenhimmel selbst noch als Erwachsener in gewissen Momenten eine mystisch gestimmte Gänsehaut einjagen kann, so war ja auch das Jahr 2000 gerne Anlass ebenso hilfloser wie bedeutungsheischender Sätze: „Dann ist 2000, stell dir das mal vor, Mann!“

Es deutet einiges darauf hin, dass sich das Leben im Jahr 2000 von der Art und Weise, wie wir heute leben, nicht sonderlich unterscheiden wird. Alles wird weiterhin existieren, nur eines wird es eben nicht mehr geben: die Zukunftsvorstellung vom Jahr 2000. Eigentlich habe ich ganz gerne mit dieser Vorstellung gelebt. Als Leerstelle stand das Jahr 2000 mein ganzes Leben lang bereit, um Hoffnungen – wenn man denn meinte, welche haben zu sollen – darauf zu projizieren. Und nun? Ein Anlass weniger – und bei Licht besehen der einzige nicht religiöse Anlass –, um die Verheißung des ganz Anderen zu pflegen. Auch wenn man ja mittlerweile pragmatisch ist bis auf die Knochen: Irgendwo, in einem versteckten und meistens auch verheimlichten Winkel der Seele, regt sich da ein wenig Trauerarbeit.

Na ja, soll es sich regen. Auf den zweiten Blick überwiegt sowieso die Ansicht, dass man auch ohne Jahr 2000 ganz gut auskommen kann. Und sobald der Tagesverstand restlos eingeschaltet ist, will es mir sogar als Zivilisierungsgewinn erscheinen, dass diese Sache nun auch in absehbarer Zeit ausgestanden sein wird. Dass die Zeit der großen Erzählungen vorbei ist und dass das auch ganz gut so ist, weiß heute jedes Kind. Nun wird bald nicht einmal mehr die Chiffre des Jahres 2000 bereitstehen, um da hinein irgendwelche Rest- und Schwundformen der Großerzählungen zu konservieren. Wenn man bedenkt, dass sie in Berlin die gute, alte Naziästhetik des Lichtdoms bemühen, um den Jahrtausendwechsel zu begehen, hat man eigentlich wirklich keinen Grund, das zu bedauern.

Irgendwo aber werden sich auch im kommenden Jahrtausend Schellackplatten drehen, und das ist schön.

Dirk Knipphals