Der König der Harmonie

■ Franz Lidecke ist Märchenerzähler. Er glaubt, dass Märchen grenzenlos gelassen machen. Und selbst hoffnungslosen Menschen wirkungsvoller helfen können als jede Medizin

Wenn Franz Lidecke über Märchen spricht, redet er wie ein Juwelier. „Ein Märchen erzählen zu können“, erklärt er mit leuchtenden Augen, „ist, als besäße man einen kleinen Edelstein. Auch wenn man ihn niemandem zeigt, verleiht er einem doch Glanz und Schönheit.“

Grund genug für den 60-jährigen Lehrer, sich in seinem Nebenberuf als geradezu enthusiastischer Edelsteinhändler zu betätigen. Franz Lidecke ist Märchenerzähler. Seit drei Jahren ist er Mitglied des Bremer Märchenkreises, der zuletzt mit der Organisation des diesjährigen Europäischen Märchenfestivals von sich reden machte.

Eigentlich unterrichtet Lidecke an einer Gesamtschule in Bremerhaven. Doch an die Kraft der Märchen glaubt er mehr als an alle Lehrpläne und pädagogischen Konzepte. Deshalb nutzt er sie auch im Unterricht. Wenn die Erdkunde-Stunde sich Russland widmet, erzählt er das russische Märchen „Die Gusslispielerin“, in der Deutsch-Stunde solche, an denen sich Struktur und Formgesetze der mündlichen Erzählung demonstrieren lassen. In der Englisch-Stunde erzählt er die Story of Hänsel and Gretel. Und im Musikunterricht dürfen sich seine SchülerInnen schließlich zu bestimmten Kompositionen selbst Märchen ausdenken.

Von seinen Kollegen wissen die wenigsten von seiner Leidenschaft und seiner Tätigkeit im Märchenkreis. „Das ist auch nicht so wichtig“, gibt sich Lidecke gleichgültig. „Der Prophet gilt halt nichts im eigenen Land. In meiner Schule hat mich noch nie jemand vom Kollegium gefragt, ob ich mal im Rahmen seines Deutsch-Unterrichts – in der fünften und sechsten Klasse sind nämlich immer Märchen dran – erzählen wolle.“

Woran das liege? „Futterneid“, sagt Lidecke. Und für einen kurzen Moment taucht da eine kleine senkrechte Falte zwischen seinen Brauen auf. Aber, fügt er schnell hinzu, das sei wirklich kein Problem für ihn. Und beeilt sich zu versichern, dass es niemand gäbe, mit dem er im Streit läge. „Menschen, die Märchen mögen“, betont er, „sind nämlich in der Regel sehr harmoniebedürftig. Und je länger man sich mit Märchen beschäftigt, desto ausgeglichener wird man.“

Diese grenzenlose Gelassenheit ist aber, doziert Lidecke voller missionarischem Eifer, noch lange nicht alles, was Märchen bewirken können. Auch bei Therapien kann man sie einsetzen, ja, sie ersetzten zuweilen sogar fast jede Medizin. Ein mit ihm befreundeter Psychotherapeut erzähle seinen Patientinnen immer das Märchen vom Froschkönig. Und gleich der Prinzessin, die den Frosch an die Wand knallt, sollten auch diese ihre Probleme ganz einfach anpacken und wegwerfen, anstatt sie jahrelang mit sich herumzuschleppen. Als der Arzt die Froschgeschichte mal vor einer Therapiegruppe erzählt habe, sei eine Frau, die sich sonst nie zu ihrer Störung äußerte, plötzlich aufgesprungen und habe spontan gerufen: „Ja, so sind sie, die Männer!“ Warum auch immer, aber Märchen sei Dank.

Eigentlich möchte der Bremerhavener aber einen ganz anderen Zugang zu den Märchen vermitteln. Die Schönheit der Sprache und der damit erzeugten Bilder solle auf die ZuhörerInnen wirken – und vielleicht könne man damit in manchen Fällen ja auch ein Stück Lebensweisheit weitergeben, „so altmodisch das auch klingt“. Und blickt ein wenig nachdenklich vor sich hin.

Denn heutzutage sei es ja wohl nicht mehr so üblich, dass die Großmutter ihren Enkeln bei jedem Besuch ein neues Märchen mitbringe – so wie das in Franz Lideckes Elternhaus noch ganz selbstverständlich war. Und natürlich hat er auch schon Jugendliche kennen gelernt, denen es sichtlich peinlich war, sich sowas Uncooles wie ein Märchen anzuhören.

Aber mit solchen Kriterien – altmodisch oder nicht – dürfe man sowieso nicht an Märchen herangehen. „Denn Wahrheit“ – und nun fühlt sich er wieder ganz sicher – „Wahrheit ist eben keine Frage von Moden und Generationen. Menschen, die Märchen nichts angeht, gibt es nicht! – Und deshalb kann man Franz Lidecke nicht verlassen, ohne ihm gleich zweimal versprechen zu müssen, noch am selben Abend mit dem regelmäßigen Lesen von Märchen anzufangen. Schlechte Zeiten für Frösche! Mona Clerico

Informationen über den Bremer Märchenkreis erteilt in Bremen Helga Hoppe (223 57 81); Ansprechpartner in Bremerhaven ist Franz Lidecke (04743/66 14)