In Japan ist der Technikglaube erschüttert

Nach dem Atomunfall will die japanische Regierung mit einem neuen Krisenmanagement das Vertrauen der Bevölkerung in die Atomenergie zurückgewinnen. Ein Arbeiter aus dem Krankenhaus entlassen ■ Von André Kunz

Tokio (taz) – Knapp drei Monate nach dem schweren Atomunfall im japanischen Tokaimura ist gestern einer der verstrahlten Arbeiter aus dem Krankenhaus entlassen worden. Der 55-jährige Yutaka Yokokawa hatte am 30. September Glück im Unglück. Er befand sich zu dem Zeitpunkt, als eine unkontrollierte Kettenreaktion mit einem blauen Blitz in der Fabrik für Brennelemente begann, in einem Nebenraum und wurde nicht lebensbedrohend verstrahlt. Seine beiden Kollegen Hisashi Ouchi und Masato Shinohara, die damals die Kettenreaktion auslösten, kämpfen in der Universitätsklinik von Tokio weiterhin um ihr Überleben.

Der aus dem Krankenhaus entlassene Arbeiter erhielt nach dem Unglück eine Bluttransfusion, um die Zahl der weißen Blutkörperchen zu erhöhen. Auch nach den 82 Tagen im Krankenhaus muss er weiterbehandelt werden.

Das Schicksal dieser drei Männer hat den japanischen Technologieglauben mehr erschüttert als eine endlose Reihe von technischen Pannen in Atomanlagen, im Raumfahrtprogramm und im Betrieb der Hochgeschwindigkeitszüge. „Die drei verstrahlten Männer haben der Gefahr, die der Umgang mit Hochtechnologie mit sich bringt, ein Gesicht gegeben. Dieses Gesicht blickt nicht optimistisch in die Zukunft, sondern schmerzverzerrt auf die Folgen eines leichtsinnigen Umgangs mit der Technik“, erklärt Hiroaki Yanagida, Professor für Ingenieurwissenschaften an der Universität von Tokio. Die japanische Öffentlichkeit werde von nun an viel kritischer auf technologische Großprojekte reagieren als in der Vergangenheit, sagt Yanagida.

Japan will als einziges fortgeschrittenes Industrieland der Welt den Anteil der Atomkraft in den nächsten zehn Jahren weiter ausbauen und 20 neue Meiler hochziehen. Die Regierung hält auch nach dem Unfall in Tokaimura am Ausbau der gefährlichen Brütertechnologie fest. Zwar steht der Testbrüter Monju nach einem Unfall im Dezember 1995 derzeit still. Er soll aber bereits in zwei Jahren wieder den Betrieb aufnehmen, wenn das Kühlsystem repariert und verbessert ist.

Die Politiker haben jedoch eingesehen, dass die Kontrollen in den Atomanlagen verschärft werden müssen. Nachdem eine Untersuchung im Oktober offen legte, dass in nuklearen Anlagen außer den Atomkraftwerken nur unregelmäßige Sicherheitsprüfungen durchgeführt wurden, hat das Parlament im Schnellverfahren neue Gesetze verabschiedet. Nun müssen die Sicherheitsvorkehrungen in sämtlichen nuklearen Anlagen regelmäßig kontrolliert werden. Außerdem erhält die Zentralregierung mehr Verantwortung in Krisenfällen. Der Premier kann nach Unfällen den „atomaren Notstand“ ausrufen und die Armee zu Hilfseinsätzen beordern. Bisher waren kommunale Verwaltungen für die Bekämpfung von Atomunfällen verantwortlich.

Gegen die Betreibergesellschaft der Brennelemente-Fabrik (JCO) läuft bereits ein Strafverfahren wegen Fahrlässigkeit, und vergangene Woche hat eine Hundertschaft von Polizeiermittlern die Büros der Muttergesellschaft Sumitomo Metal Mining in Tokio durchsucht. Eine Strafanzeige und der Entzug der Lizenz drohen nun auch dem Großkonzen.

Das harte Vorgehen gegen die Verantwortlichen der Betreibergesellschaft steht in starkem Kontrast zur Behandlung der direkt betroffenen Menschen in Tokaimura. Mindestens 69 Menschen sind leicht verstrahlt worden. Vergangene Woche bot die Betreiberfirma etwa 120 Menschen, die im Umkreis von 350 Metern um die Anlage wohnen, eine Entschädigung von 50.000 Yen (940 Mark) pro Kopf an. Zornige Bewohner lehnten das Angebot als völlig unzureichend ab. „Der Vorschlag zeigt, dass die Betreiber kein Schuldgefühl haben und keine Reue zeigen“, kritisierte Tatsuya Murakami, der Bürgermeister von Tokaimura.

Nicht nur die Anwohner, auch die Bauern in der Umgebung von Tokaimura sind unzufrieden. Ihre Produkte müssen sie weit unter Marktpreis verschleudern. Die Käufer in und um Tokaimura gehen lieber auf Nummer sicher und misstrauen den Beteuerungen der Behörden, dass nichts verstrahlt sei. Die lokalen Agrarkooperativen schätzen den Schaden auf rund 1,3 Milliarden Yen (24,5 Mio. Mark) und haben Entschädigungsklagen eingereicht. Die Präfekturregierung geht davon aus, dass der Schaden für die Lokalwirtschaft – Tourismus, Agrarwirtschaft und verzögerte Investitionen in neue Industriebetriebe – rund 15 Mrd. Yen (216 Mio. Mark) beträgt. Wer für diese indirekten Ausfälle zahlt, ist noch völlig unklar.