Nähe gehört woanders hin – meistens

Clemens Reichow ist auf Hilfe angewiesen. Aber er will sich selber aussuchen, von wem er sie bekommt. Die Hamburger Assistenz-Genossenschaft vermittelt ihm Pfleger  ■ Von Sandra Wilsdorf

Mit Nähe ist das so eine Sache. „Natürlich gibt es Momente, in denen man sich nahe ist“, sagt Clemens Reichow. Aber nicht zu viele. Denn die Menschen, die rund um die Uhr bei dem 44-Jährigen sind, heißen Assistenzgeber und Clemens Reichow ist ihr Assistenznehmer. Und damit ihr Arbeitgeber. „Ich versuche, ein vernünftiger Chef zu sein.“

Reichow sitzt im Rollstuhl und die Menschen, die ihn waschen, ihm in den Rollstuhl helfen, ihm den Haushalt machen, für ihn putzen, kochen und ihn pflegen, sucht er sich selber aus. Er ist Mitglied der Hamburger Assistenz-Genossenschaft (HAG). „Die treffen nach meinen Kriterien eine Vorauswahl, aber ich entscheide.“ Seine Kriterien: Er arbeitet lieber mit Frauen zusammen als mit Männern und am liebsten sollten sie zwischen 35 und 45 Jahren alt sein, damit der Altersunterschied nicht zu groß ist.

Er hat ein Team von acht Menschen, die jeweils zehn bis 30 Stunden die Woche bei ihm sind. Sie alle sind pflegerische Laien. „Ich sage ihnen genau, was sie machen müssen.“ Und er macht das gern. „Schließlich gebe ich meinen Körper in fremde Hände, da will ich bestimmen, wie das geht.“ Das geht nicht immer ohne Angst. Den Lifter zu bedienen, mit dessen Hilfe er vom Bett in den Rollstuhl kommt, sei für viele schwierig. „Und wenn man seit 44 Jahren jeden Tag vom Bett in den Rollstuhl muss, macht man eben so seine Erfahrungen.“

Weil es die HAG gibt, kann Reichow zu Hause bleiben, muss nicht in ein Heim und kann sich selber aussuchen, wer bei ihm ist. „Bei einem Pflegedienst könnte jeden Tag jemand anderes kommen und ich hätte keinen Einfluss darauf.“ Früher habe er Zivildienstleistende gehabt. „Aber ich werde älter und die bleiben immer jung.“

Für ihre Arbeit hat der Hamburger Senat die HAG jüngst mit dem Senator-Neumann-Preis ausgezeichnet, „für ihr Konzept der persönlichen Assistenz, das behinderten Menschen ein weitgehend eigenständiges Leben in der Gesellschaft ermöglicht“, heißt es in einer Presseerklärung. Der mit 40.000 Mark dotierte Preis geht alle fünf Jahre an Einrichtungen oder Einzelpersonen, die sich um die Lebenssituation behinderter Menschen verdient machen.

Clemens Reichow ist bei der HAG auch im Aufsichtsrat und einer der Sprecher der AssistenznehmerInnen. „Wir sind durch und durch demokratisch organisiert.“ Und diese Idee von Demokratie und vor allem Selbstbestimmung gefällt ihm. „Wer gepflegt wird, ist nie hundertprozentig selbstbestimmt, aber ich möchte dem so nahe wie möglich kommen.“ Trotzdem: „Gepflegt zu werden ist oft unerträglich.“

Deshalb sieht Reichow die Sache so nüchtern wie möglich. „Zusammen essen? Das kommt ab und an vor. Aber gemeinsames Fernsehen gibt es nur ganz selten. Die haben in ihrem Zimmer einen eigenen Fernseher. Schließlich sind das nicht meine Unterhalter.“ Das Verhältnis zu den Assistenzgebern sei eines wie zu Kollegen. „Mit manchen redet man mehr, mit anderen weniger.“ Ohnehin gehe es den meisten ums Geldverdienen. „Was ist denn auch Idealistisches daran, wenn ich Durchfall habe?“ Dann läuft und läuft es, und jemand muss den künstlichen Darmausgang sauberhalten. „Dafür bemühen wir uns, vernünftiges Geld zu bezahlen.“

Aber es gibt Tage, an denen das Verhältnis anders ist. Heiligabend zum Beispiel. „Da kommt eine Assistenzgeberin schon zum zweiten Mal, dann kochen wir uns etwas Schönes. Gänsebraten. Natürlich reden wir dann auch. Und da kommt schon so etwas wie Nähe auf.“