Die Jazzkolumne
: Blaue Pause

Zu spät gekommen, zu früh abgefahren: Keith Jarrett und Jan Garbarek öffnen letzte Räume für das Narrative im Jazz

Die Neunzigerjahre werden als ein Jahrzehnt der Pause in die Geschichte des Jazz eingehen. Ein Loch zwischen der einen, irgendwie überstandenen Turbulenz und einer anderen, die sich dunkel abzuzeichnen begann – als Hoffnung auf einen Wandel. Wandel aber ist, wie der Ethnologe Clifford Geertz beobachtet hat, eben keine Parade, der man beim Vorbeimarschieren zuschauen kann. Vielleicht bleibt deshalb ein unbehagliches Gefühl. Als ob man zu spät gekommen und zu früh abgefahren wäre.

Es waren die Achtziger, in denen Möchtegerngenies das Jazzpublikum betrogen; in den Neunzigern tummelten sich Quereinsteiger und einstige Widerständler auf den geschichtsträchtigen Bühnen. Die Vorhänge blieben offen und die Fragen auch. Das Wynton-Marsalis-Motto „Fit für die Macht“ verrät Sachzwang – die erzählenswerten Geschichten ersetzen kann es nicht. Miles Davis, Dizzy Gillespie, Don Cherry und Lester Bowie sind tot.

Die Nachfolge dieser letzten Storyteller wurde nie wirklich angetreten, obwohl sich Keith Jarrett mehr als einmal angeboten hat. Wenn es auch gewiss ist, dass sich Handwerk erlernen lässt, zum Erzählen braucht es eben Talent und Geschichte(n). Italo Calvino fasste für die Literatur zusammen, was auch für den Jazz gilt: Kafkas Kübelreiter irgendwie ähnlich, „nähern wir uns auf unserem Kübel reitend dem neuen Jahrtausend, ohne Hoffnung, dort mehr vorzufinden als das, was wir selber dort hinzubringen vermögen“. Oscar Peterson, der Pianist, sagt, was das ist: Talent und Swing, „in der Reihenfolge“.

Jarrett hat immer beides gegen die hypeerfahrenen Youngster verteidigt. Den jungen Jazzmusikern sei das Alphabet gelehrt worden, sie wüssten um Floskeln, hätten erkannt, dass es Raffiniertes und Derbes gibt, allein sie lebten eben vom bloßen Wissen, es fehle ihnen an Talent, selbst Geschichte zu machen. Spiegelt sich in solchen Verweisen nur die Verbitterung der Ältergewordenen? Zum Glück schweigen die ganz Alten meist, denn sie wissen um die Verantwortung, die ihr Reden birgt. Sie sonnen sich in ihrer Geschichte. Womit klar wird, dass das eigentliche Problem darin besteht, wie mit dem beständigen Material so umzugehen ist, dass die großen Geschichten nicht alle gleich und gleich alt klingen. Jazzmusiker sind zwar Experten im Codieren, Re-Modeling ist ihre Sache nicht, und das Diskursive geht ihnen eher ab.

Keith Jarrett selbst nahm die Spur der großen Erzähler bereits Anfang der Achtzigerjahre wieder auf. Er reintegierte die alten Standards in den modernen Jazz, die noch von der Zeit des Great American Songbooks singen und zu Improvisationsgrundlagen für unzählige Klassiker der afroamerikanischen Instrumentalmusik dieses Jahrhunderts wurden. Der schwarze Kulturkritiker Amiri Baraka hatte diese melodiesüchtigen Kleinstkunstwerke von weißen Amerikanern namens Cole Porter, Jerome Kern und George Gershwin einst als Tin-Pan-Alley-Knast bezeichnet und den wahren Jazzmusikern die Abkehr empfohlen. Man spielte nur noch eigene Kompositionen in den Sechzigern, originals, und tat ziemlich stolz. So stolz, dass zunächst gar nicht auffiel, wie sehr Melodie samt Lyrics auf der Strecke geblieben waren. Irgendwie war auf einmal der Ausgangspunkt futsch. Jarretts Standardtrio wurde dann – aus heutiger Sicht – die kompetenteste und innovativste Rettungsstation der Jazzgeschichte, was den eigenständigen Umgang mit dem kulturellen Erbe betrifft.

Das Meisterwerk dieses Jahrzehnts, eine 6-CD-Box mit dem Titel „Keith Jarrett At The Blue Note“, dokumentiert sechs Sets seines Standardtrios, aufgenommen in dem New Yorker Jazzclub im Sommer 1994. Hier werden Geschichten erzählt, atemberaubend leicht, schnell, genau, anschaulich und vielschichtig. Hier – und das zielt auf das Münchner Plattenlabel ECM – wird Kontinuität demonstriert. Ein letzter Raum fürs Narrative im Jahrzehnt der Pause. Seit zwei Jahren ist Jarrett nun schwer krank, fühlt sich unheilbar geschwächt, kann nicht mehr auftreten. Ihm fehle die Energie zum Spielen, er wisse nicht, ob es je wieder wird. Und eben das ist seiner aktuellen CD „The Melody At Night With You“ anzuhören. Eine Auswahl von langsam zu spielenden Standards, alte Melodien, die Jarrett für seine Frau drückte, kraftlos schön.

Jarrett prägte einst mit „The Köln Concert“ das Jazzkonsumverhalten einer ganzen Generation. Deshalb klingt der unbändige Hype, der dem Pianisten ausgerechnet wegen seiner neuen CD widerfährt, auch sehr danach, als hätte man sich bereits – mit einem letzten lauten Lob und der Empfehlung für beste Verkaufszahlen – von ihm verabschiedet. Die Franzosen kennen da nichts, zur Prime-Time läuft ein Werbespot zur neuen Jarrett-CD im Fernsehen. Noch einmal mit Jarrett die alten Quoten holen. Klar gibt es die Geschichten aus der Jugend, die lange als die liebsten Lieder überdauern, und es gibt die Geschichten, die aus Aktuellem sich nähren. Die alten Lieder kehren wieder beim Singen der neuen Schlager, heißt es bei Carlo Emilio Gadda, die alten sprachen vom Heimweh nach der fernen Mutter, die neuen sind dreist – „die Bekräftigung der Vitalität, die der Erde gewiss neue Söhne schenken wird“.

Jan Garbarek hat in diesem Jahrzehnt zwei solch wundersame Geschichten neu erzählt. Jim Peppers „Witchi Tai To“ (auf der CD „Twelve Moons“) und Don Cherrys „Malinye“ (auf „Rites“). Sie scheinen der Originalstimmung weit entfernt und – spirituell gesehen – doch auch sehr nah zu sein. Es sind auratische Stücke, vom Material her verblüffend einfach gebaut. Es sind Geschichten, mit denen Garbarek lange gelebt hat. Der Vergleich mit seiner„Witchi Tai To“-Einspielung aus dem Jahre 1973 macht deutlich, dass sich die Zeiten geändert haben. Und die Menschen auch. Die liebsten Stücke werden auf einmal – zwanzig Jahre später – ganz anders wahrgenommen. Das Impulsive ist dem In-sich-Ruhen gewichen. Was vielen zum qualvoll unendlich scheinenden Abschied wird, zum Abschied von der Jugendkultur, gerät bei Garbarek zum wahrgenommenen Klopfen, zur Überwindung des Midlife: Die Pause nähert sich dem Ende. Jeder auf seinen Platz. Christian Broecking