30 Minuten Ausbeutung

Die schwedische Biennale-Künstlerin Ann-Sofi Sidén zeigt in Wien eine Installation mit Videos zum Sextourismus an der deutsch-tschechischen Grenze ■ Von Harald Fricke

Im Zug von Berlin nach Wien verteilt ein Schaffner gleich hinter der deutsch-tschechischen Grenze die Prager Zeitung. Der auf Deutsch erscheinenden Ausgabe liegt ein extra Wirtschaftsteil bei, mit Artikeln über die Expansion der HypoVereinsbank und das Wachstum der Märkte im Osten. Die Hälfte der Beilage besteht aus Werbeanzeigen für Messen in Brünn oder Prag. Für den Autofahrer stellt sich die Reise ins Nachbarland etwas anders dar: Er kommt in Dubí, einem Dorf an der E 55 zwischen Prag und Dresden, am „längsten Straßenstrich Europas“ vorbei. Auch das ist ein Standortfaktor im Tschechien der Neunzigerjahre. Aber darüber berichtet die Zeitung nichts.

Die schwedische Künstlerin Ann-Sofi Sidén wurde eher zufällig bei einem Zwischenstopp auf den Low-Tech-Sextourismus aufmerksam. Aus der Begegnung mit einem guten Dutzend Prostituierten, Zuhältern und Hotelbesitzern sind dabei dokumentarisch gehaltene Filmaufnahmen entstanden, die nun in der Wiener Secession als verwinkelte Videoinstallation gezeigt werden. Auf vier Großbildprojektionen sieht man Straßenbilder, die Sidén vom fahrenden Auto aus gefilmt hat, dazu Szenen in der örtlichen Kontaktbar und ein Tagebuch mit Texten und Fotos der anschaffenden Frauen. Im hinteren Teil der Raumflucht wurden Videokabinen mit einem bordellroten Teppich ausgelegt. Dort erzählen die Huren von ihrem Arbeitsalltag, Polizisten erklären, wie schwer Kriminalität im Rotlichtmilieu unter Kontrolle zu bringen ist, und ein gewisser Honza beklagt, dass er gar nicht zum Unternehmer in Sachen Sexbusiness taugt, sondern früher viel lieber im Sozialismus als Oberkellner gearbeitet hat.

Insgesamt war Sidén in diesem Jahr viermal bei den Prostituierten von Dubí auf Besuch. Nach einer Weile gehörte sie selbst zur Familie, durfte bei Partys mitfeiern und zum Schluss sogar mit einem der Zuhälter tanzen. Diese Nähe zum Betrieb hat ihr wiederum sehr bei den Interviews geholfen: Ohne große Scheu vor der Kamera berichten die Frauen im Zentrum der Arbeit darüber, wie sie mit ihrem Leben fertig werden.

Vanja kommt aus Bulgarien und fährt alle paar Monate zurück in ihre Heimat, wo der Freund sich über das viele Geld freut und ansonsten keine Fragen stellt. Eva ist von zu Hause abgehauen, als sie 16 Jahre alt war, und geht seitdem auf den Strich. Wenn sie lacht, sieht man schwarze Zahnstummel in ihrem Mund. Wenn sie nervös im Stuhl herumrobbt und sich am Unterarm kratzt, merkt man, dass sie das Geld für Drogen braucht. Und wenn sie erzählt, dass ihre Mutter vom Vater mit einer Stahlkiste erschlagen wurde, weiß man, warum sie überhaupt in Dubí gelandet ist.

Natürlich sind all diese Bilder und Statements bekannt. Für RTL-Reporter und Pro 7-Teams ist das Geschäft mit der Prostitution im Osten als Schwerpunkt für die Spätabendprogramme mindestens so einträglich wie Fickgeschichten vom Ballermann. Bei Sidén spürt man jedoch, wie aus der Beobachtung auch für den Betrachter allmählich Teilhabe wird, wie sich aus den jeweils 30 Minuten langen Storys über Ausbeutung, Männergewalt und Kontrolle tatsächlich ein Dialog zwischen Frauen entspinnt. „Die Abhängigkeiten waren für mich irgendwann fast schon selbst körperlich spürbar“, so jedenfalls beschreibt Sidén das langsame Aufgesogenwerden von der Umgebung.

Dieser disziplinierte und zugleich hingabevolle Umgang mit Extremsituationen ist seit Jahren fester Bestandteil der Arbeiten von Sidén. Bei Performances trat sie nackt als eine in Schlamm gehüllte Queen of Mud in Parfümgeschäften auf, mit Überwachungskameras filmte sie anonyme Videos von Hotelgästen, die auf der letzten Biennale in Venedig zu sehen waren. Immer verzichtet sie dabei auf eigene Kommentare und stellt stattdessen die schroffe Unmittelbarkeit des Materials in den Vordergrund. Umgekehrt entwickeln sich gerade aus dieser Dichte der Beschreibung intime Verhältnisse. Indem Sidén das Dilemma der Sexindustrie nicht moralisch aufarbeitet oder als Zwangslogik des Kapitalismus bloßzustellen versucht, spürt man, was in dem Geschäft vor allem verloren geht: Es ist die Würde der Frauen. Sie aber lässt sich mit keinen noch so mitfühlenden Filmbildern wieder herstellen. Das weiß auch Sidén und wundert sich deshalb über das Kitschvideo von George Michael zu „Roxanne“. Dagegen setzt sie auf eine unabgeklärte Aufklärung, die aus einem Sinn für Realitäten resultiert, der sich von Wünschen nicht erschüttern lässt. Sidén ist von der Tristesse im Leben der Prostituierten weder fasziniert noch betroffen. Sie schaut einfach nur genau hin und gibt wieder, was sie gesehen hat. Silvester wird sie wieder nach Dubí fahren. Nicht zum Filmen, sondern zum Feiern.Ann-Sofi Sidén: „Warte Mal!“, bis 19. 1., Secession, Wien