Du sollstnicht stehlen
: Verletztes Vertrauen

Es ist nicht leicht für Menschen, die wenig Geld haben, einzusehen, dass sie nicht an den schönen, meist kostspieligen Dingen des Lebens teilhaben können. Da ist zum Beispiel ein Bettler, der einem anderen die prall gefüllte Brieftasche entwendet. Moralisch mag er einen Anspruch darauf haben, dass auch er zu finanziellen Mitteln kommt. Vielleicht braucht er es, um sich einen warmen Mantel zu kaufen oder eine Hose, die nicht wie ein Lumpen aussieht. Insgeheim billigen wir seinen Akt und denken: Was lässt der Reiche sich auch so einfach berauben?

So in etwa haben wir gedacht in den Siebzigerjahren: Nehmt den Reichen, was den Armen zusteht. Ladenstiebstahl war eine Bagatelle; der Diebstahl einer Dose Bohnen oder eines Lippenstifts galt als lässliche Sünde. Aber das biblische Gebot ist strikt. Es heißt nicht: Du sollst meistens nicht stehlen. Es ging in diesem Gesetz ums Ganze: ausnahmslos.

Es diente dazu, nicht nur im Leben der Mitglieder des auserwählten Volkes die Grenze zwischen Mein & Dein einzuüben und deren Verletzung zu ächten. Damals gab es noch nichts zu verteilen, kaum etwas zu entwenden. Hinter der Idee, Diebstahl für indiskutabel zu halten, steckte die Vorstellung von Gesellschaftlichkeit: dass ein zivilisiertes Zusammenleben nicht funktioniert ohne Vertrauen. Und dies ist stets daran gebunden, dass es nicht missbraucht wird.

Insofern sagt das Gebot nichts aus über die kummervollen Notfälle des schlechten Lebens („erst kommt das Fressen, dann die Moral“), sondern vielmehr etwas über die Voraussetzungen menschlichen Miteinanders: Respektiere die Grenzen der anderen, vergreife dich nicht an deren Dingen – sonst musst du damit rechnen, dass man dir mit Misstrauen begegnet, dir nicht traut, dir das Haus verschließt und dich nicht als Gast willkommen heißt.

Denn um das Stehlen von schlichten Dingen des Überlebens geht es ja nicht. Aber wer kann die Grenze ziehen? Wer kann wirklich begründen, dass der Diebstahl des einen Billigung finden darf, der des anderen aber nicht? Warum ist die Entwendung eines Pfund Kaffees beim Lebensmitteldiscounter gut, die von Geld aus den Portemonnaies von Familienangehörigen schlecht? Diese Grenze zu ziehen wird niemandem gelingen, das war schon zu biblischen Zeiten so und ist heute nicht anders: Der fehlende Respekt vor den Gütern anderer ist ethisch nicht aufteilbar.

Auch das Argument, dass die gestohlenen Dinge gute Dinge verrichten können, dass sie mit Liebe weiterverschenkt werden, sticht nicht: Es sind immer vergiftete Gaben. Und deren Geber scheinen davon auszugehen, dass ein kleines Geschenk schlechter ist als ein großes. Es ist ihr falscher Glaube, dass die Liebe mit Gütern gekauft werden kann. In diesem Zusammenhang wäre zu sprechen über Neid, Habgier und Eifersucht, über Geld & Gut, die gute Gefühle ersetzen sollen. Und über die Liebe. Aber mit Diebesgut im Gepäck ist sie nur Lug & Trug.

Jan Feddersen