Du sollstnicht töten
: Rigoroses Tabu

Von den Zehn Geboten, schien mir früher, hatte das sechste am wenigsten mit meinem Leben zu tun: Getötet wurde im Krieg. Ich bin nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Obwohl mein Vater und andere Verwandte Soldaten gewesen waren, sprachen wir nie darüber, ob oder wie sie getötet hatten. Das Thema war tabu.

Wir lernten in der Schule, dass der Krieg eine Ausnahmesituation gewesen war und die Menschen inzwischen klüger geworden seien: Seitdem war in Deutschland immerhin die Todesstrafe abgeschafft worden. Als ich aufwuchs, kannte ich niemanden persönlich, der einen anderen Menschen getötet hatte. Wer starb, war alt, krank oder hatte einen Unfall erlitten. Das war nur im Film anders, in Büchern und in der Zeitung. „Du sollst nicht töten“ – dieses Gebot schien mir deshalb fern, weil sich dort, wo ich lebte, so viele Leute daran hielten.

Als Korrespondentin habe ich in Kambodscha, Indonesien und Osttimor inzwischen viele Tote gesehen: Männer, Frauen und Kinder, die in Phnom Penh mit abgerissenen Gliedern verbluteten, nachdem Attentäter Handgranaten auf sie geworfen hatten. Menschen, die in Jakarta in Kaufhäusern verbrannt waren, weil jemand gezielt die Gebäude abfackelte. Jugendliche, die auf offener Straße erschossen wurden.

Ich sah auch, wie in Jakarta religiöse Fanatiker eine Menschenmenge aufstachelten, „Heiden“ umzubringen. Nur wenige hundert Meter weiter sprach ich mit Leuten, die noch vor wenigen Stunden wohl das Leben eines normalen Bürgers geführt hatten, ihre Kinder von der Schule abholten und im Supermarkt einkauften. Nun hatten sie Eisenstangen und Ketten in der Hand und brannten darauf, einen bereits schwer verletzten Mann endgültig zu töten. Sie hatten alle Hemmungen verloren. Es schien niemanden zu geben, der sie hindern wollte oder konnte. Einige Stunden später war der Mann tot. In Osttimor lernte ich Menschen kennen, die ein ähnliches Schicksal erleiden sollten.

Hinter diesen Morden stecken keineswegs religiöse oder kulturelle Unterschiede. Das Tötungstabu gilt für Muslime, Buddhisten und Christen. Viele der Mörder in Osttimor, die heute zum großen Teil frei herumlaufen, sitzen sonntags in der Kirche.

In allen diesen Ländern kämpfen BürgerrechtlerInnen, Politiker und Geistliche gegen die Gewalt. Mit unendlicher Geduld predigen sie gegen Rache und für Versöhnung. Sie kämpfen dagegen, dass Polizisten, Politiker oder Geschäftsleute unliebsame Gegner und Konkurrenten ungestraft ermorden lassen dürfen.

Die Bedeutung des Gebotes „Du sollst nicht töten“ liegt in seiner Rigorosität: Es macht keine Ausnahme. Wer dagegen verstößt, muss sich rechtfertigen. Das gilt auch, wenn jemand Pol Pot oder Kim Jong-il getötet hätte, um Massenmorde oder Hungersnöte zu verhindern, oder die indonesischen Generäle, die Morde in Osttimor planten. Wo das sechste Gebot nicht mehr verteidigt wird, ist das Leben unerträglich.

Jutta Lietsch