Nichts als eine heilige Sache, die Laut gibt

Die Glocke! Schiller natürlich. Kling, Glöckchen, klingelingeling. Ein zersungenes Weihnachtslied. Der Glöckner von Notre-Dame, ein schauerlich-tragisches Märchen. Tischglocke, Kuhglocke, Dunstglocke, Schiffsglocke, das letzte Stündlein hat geschlagen. Glockengießerwall, mehrspurige Ringstraße in Hamburg. Glocken zu Kanonen! Hitlers Antwort auf die sakrale Anmutung dieses Glaubenssymbols. Und heute? Tatsächlich hat sich in einem kleinen Betrieb in Lauchhammer, mitten in der Niederlausitz, noch das alte Handwerk der Glockenproduktion erhalten. Von der mehr als tausend Grad heißen Geburt dieser Königin unter den Instrumenten ein Augenzeugenbericht von Heike Haarhoff

Die mündliche Prüfung im Fach Zivilrecht lief bestens. Der Jurastudent entspannte sich. Da fragte sein Professor unvermittelt, was eine Glocke sei. Der Prüfling zuckte, stotterte. „Eine Glocke ist eine emittierende, also eine Laut aussendende Anlage“, beschied der Student schließlich. Gravitätisch berichtigte der Prüfer: „Eine Glocke ist eine res sacrae, eine heilige Sache.“

Eine Glocke ist also mehr als das, worauf sie der Brockhaus reduziert: „ein hohler, meist konkav gewölbter, nahezu kegelstumpfförmiger, aus Metall gegossener Klangkörper, der von innen mit einem frei beweglich aufgehängten, metallischen Klöppel oder von außen mit einem Hammer angeschlagen und zu Eigenschwingungen angeregt wird“.

Glocken sind die ältesten Klanginstrumente. Sie sind die Geschichte von Menschen, eine, die im Morgen- wie im Abendland spielt: Buddhisten hängen Glocken in ihre Tempel, um ihre Mönche zum Gebet zu rufen, Juden befestigten sie zuweilen als Schmuck an Thorarollen. Christen läuten Glocken in ihren Gotteshäusern, auf dass sie die Gläubigen zum Gebet, zur Hochzeit, zur Taufe oder zur Beerdigung rufen. In Kriegszeiten mahnen sie zum Frieden, in Friedenszeiten zu Solidarität, Gerechtigkeit und Toleranz. Wer das als Lärmbelästigung empfindet und deswegen vor Gericht zieht, wie vor zwei Jahren ein Rechtsanwalt aus Hamburg, muss sich im Zweifel mit Ohropax trösten: Eine res sacrae bleibt eben auch im Rechtsstaat eine res sacrae.Diese Geschichte über eine Glocke beginnt an einem Werktag im Dezember 1999 im schummrigen Licht einer Werkhalle der Lauchhammer Kunstguß GmbH & Co. KG in Lauchhammer in der Niederlausitz. Zufällig. Beispielsweise. Man kann auch sagen: Ihre Geschichte beginnt überall, wo und seit es Menschen gibt, egal ob sich diese Ägypter, Mayas, Assyrer, Maoris oder Niederlausitzer nannten: Sie alle besaßen einst Rasseln aus Pflanzen, Knochen oder Steinen, Vorläufer der gemeinen Glocke, um gute Geister herbeizurufen, Dämonen und anderes Unheil zu verscheuchen und kultische Handlungen akustisch zu untermalen.

Später, in der Jungsteinzeit soll es gewesen sein, erfolgte die handwerkliche Perfektionierung – ausgehöhlte Fruchtkörper, Holz und Ton waren nunmehr die Materialien, aus denen die Klangkörper waren. Und immer noch ging es um Mystik, Kult und Geister. Vor viertausend Jahren gelang den Chinesen der Durchbruch: Sie gossen die erste Glocke aus Metall, derweil die Germanen noch munter ihre Tonglöckchen kneteten. Die chinesische Glocke war Maßeinheit für Getreide, was nichts eben Spektakuläres ist, doch ihre Klänge, weiß Heike Schlichting vom Glockenmuseum im thüringischen Apolda, galten schon damals „als Bindeglied zwischen Himmel und Erde“. Und davon, sagt Heike Schlichting, seien die meisten Glockengießer bis heute überzeugt.

Es riecht nach Lehm, Staub und Metall. Meister Gerhard Wiesner setzt den Sicherheitshelm auf und bindet sich die schwere Lederschürze um, die ihn vor Funken schützen soll. Dann blickt er auf das Thermometer am großen Kessel in der Lauchhammer Werkhalle. 275 Kilogramm Kupfer und Zinn verschmelzen hier gerade zu einer höllenorangenen Flüssigkeit: Bronze. 1.050 Grad hat es bislang, fünfzig mehr müssen erreicht werden, dann ist die Temperatur für den Glockenguss optimal, sagt der Meister.In wenigen Wochen soll dieses Gemisch, erkaltet und in Form gegossen, am evangelischen Kirchturm der Gemeinde Hemstedt hängen. Die dreißig Gemeindemitglieder sind extra angereist, um beim Gießen ihrer Glocke dabei zu sein. „Das bringt Glück“, hofft eine Frau.

Alles hängt davon ab, jetzt bloß keinen Fehler zu machen. Meister Gerhard Wiesner weiß das. Denn ist die Glocke erst einmal gegossen, lassen sich bestenfalls noch Schönheitsfehler durch Herumfeilen an der Glockenoberfläche kaschieren, nicht aber ihr Ureigenstes, ihr Klang, der sie zum Instrument der Instrumente macht: Glocken vereinen von Oberoktave über Unteroktave und Quinte bis zur Prim so ziemlich alle Töne dieser Welt. Im Mittelalter wurden deswegen sogar Kirchenorgeln auf große Glocken abgestimmt.

Inzwischen ist das Geheimnis um die Tonvielfalt gelüftet. Zersägte man eine Glocke in noch so viele Ringe, so stellte man fest: Alle Ringe haben verschiedene Durchmesser, auf denen entsprechend viele verschiedene Töne liegen. Dass Glocken dennoch nicht alle gleich klingen, liegt am Verhältnis der Ringe zueinander und natürlich auch am Material.

Also: Stimmt die Zusammensetzung des Metalls? 78 Anteile Kupfer und 22 Anteile Zinn müssen es sein. Ist der Kupferanteil auch nur geringfügig höher, klingt die Glocke dumpf. Wird zu viel Zinn beigegeben, drohen Spannungen; die Glocke wird rissanfälliger.

Der Meister verliert jetzt nicht viele Worte, er prüft. Etwa zehn Minuten werde es noch dauern. Zeit genug, dass Wiesners Kollege Johannes Remenz, von Beruf geprüfter Glockensachverständiger, den Gemeindemitgliedern zeigt, wie in wochenlanger Kleinarbeit der große Tag des Glockengusses vorbereitet wurde.

Schließlich ist die Glocke kein Fließbandmodell; jede von ihnen ein Unikat, denn sie wird in eine Form gegossen, die nur ein einziges Mal verwendet werden kann. Diese Glockenform zu bauen, dauert allein schon einige Wochen. Sie besteht aus Lehm und setzt sich aus drei Teilen zusammen: Kern, falsche Glocke, Außenmantel. Der Glockenkern wird aus luftgetrockneten Lehmsteinen gemauert, er ähnelt einem auf den Kopf gestellten Trichter. Mit einer Holzschablone, die an einer drehbaren Spindel senkrecht über dem Kern hängt und anhand streng geheim gehaltener Erfahrungswerte konzipiert wurde, überprüfen die Glockengießer, ob der Kern auch die richtigen Ausmaße hat. Richtig heißt, dass der Kern die Innenmaße der späteren Glocke hat. Sobald er getrocknet ist, wird eine Trennschicht aus Rindertalg aufgetragen.

Dann folgt die „falsche Glocke“ – eine weitere Lehmschicht, die präzis so dick ist wie die spätere Glockenwand. Darauf folgt eine weitere Rindertalgschicht und schließlich der Mantel aus gröberem Lehm. Ist der Trocknungsprozess per Gasbrenner abgeschlossen, wird der Mantel sachte abgehoben und die falsche Glocke vom Kern geschlagen. Der Mantel wird wieder auf den Kern gesetzt. Dazwischen: Hohlraum für den Guss.

„Es kann losgehen“, ruft der Meister. In einem Graphittiegel und via Flaschenzug wird die brodelnde Bronze zur Glockenform gebracht. „In Gottes Namen, wir gießen“, sagt noch feierlich Johannes Remenz, der geprüfte Glockensachverständige. Er sagt das immer, nicht weil er abergläubisch wäre, neben Gott glaubt er nur an Sternzeichen, aber wenn gegossen wird, sagt er, „da freut man sich innerlich, und da bete ich dann eben leise, Gott möge die Glocke gelingen lassen“. Sagt’s und sieht das flüssige Metall zischend in der Glockenform verschwinden. Als die Glockengießer nach zwei Minuten fertig sind, knistert es aus der Form gemütlich wie am Kamin.

Jetzt beginnt die Zeit des Wartens. Denn nur Glocken, die vier bis fünf Tage Zeit zum Auskühlen hatten, bevor sie aus der Form gehauen werden, klingen gut. Die anderen haben keinen Nachhall. Doch Johannes Remenz ist nicht bange. Die Erfahrung hat ihn gelehrt, dass es in der Glockengießerei vor allem auf die Vorarbeit ankommt, und die war, was die Hemstedter Glocke angeht, akkurat.

Noch gar nicht so alt sind die Erfahrungswerte, auf die sich die Lauchhammerer Glockengießer stützen. Erst seit 1994 werden in der Kunstgießerei wieder Glocken gegossen. In der DDR gab es nur eine Glockengießerei – in Apolda, wo heute das Glockenmuseum ist. „Auf eine Glocke haben Sie genauso lange gewartet wie auf einen Trabi“, sagt Johannes Remenz. Und die „dickwandigen mit leicht gesenkter Prim, die diesen vollen, markigen Ton geben, anstatt zu jaulen“, Johannes Remenz’ Lieblingsglocken also, „die gab’s sowieso nur ganz selten.“

Die Qualität habe das nicht hergegeben. Oft wurde aus Materialmangel dünnwandig gegossen, billiges Eisen statt Bronze verwendet. Da konnte die Gießtechnik noch so gut sein, das Ergebnis war das gleiche: Scheppern und Risse.

Es ist, als empfinde Johannes Remenz immer noch Schmach. „Natürlich kann man einen Riss schweißen, aber es berührt einen doch.“ Denn ein guter Glockengießer gießt keine Glocke, die kaputt geht. Und wenn doch? Es kommt einer Beleidigung seines jahrhundertealten Berufsstolzes gleich.

Dennoch treten immer wieder Risse auf. Im Verdacht stehen vor allem die Klöppel. Das Fraunhofer Institut für Betriebsfestigkeit in Darmstadt untersuchte dieses Jahr im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen und des Vereins deutscher Gießereifachleute, wie die Lebensdauer einer Glocke zu verlängern sei. Durch regelmäßiges Drehen der Glocke, so die Idee, würden dem Klöppel „unverbrauchte Anschlagstellen“ geboten; die Rissgefahr minimiere sich. Die Annahme bestätigte sich, zumindest wissenschaftlich.

Doch der praktische Widerstand vieler Glockengießer gegen jegliche Innovation trieb die Darmstädter Ingenieure fast zur Verzweiflung: „Glocken gehören Ende des 20. Jahrhunderts wohl immer noch zu den Industriegütern, von denen angenommen wird, dass sie von Anfang bis zum Ende ihren Dienst gleich gut tun.“

Aber vielleicht kann man das von Heiligen ja auch erwarten.

Heike Haarhoff, 30, ist taz-Reporterin seit Anfang des Jahres. Sie wird die Festtage bis Anfang Januar glockenlos an der afrikanischen Westküste verbringen