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Suche nach Licht

47 Rentnerinnen und Rentner aus Marzahn begaben sich auf eine Weihnachtsfahrt ■ Von Barbara Bollwahn de Paez Casanova

Zuerst wollte Renate Hacker nicht mitfahren. Weil ihr Mann erst vor fünf Monaten gestorben ist, hat die 62-Jährige Angst vor dem ersten Weihnachten ohne ihn. Doch ihre langjährige Nachbarin und Freundin Inge Grziwotz überredete sie schließlich zu einem Weihnachtsausflug. So machten sich die beiden Witwen zusammen mit 45 weiteren Rentnerinnen und Rentnern aus Marzahn vergangene Woche auf zu einer Lichterfahrt durch die Stadt.

Schon auf dem Weg ins Zentrum gibt es Stau. Doch die Damen und wenigen Herren an Bord des Busses stört das nicht. Sie haben die 24 Mark nicht nur dafür bezahlt, nach Charlottenburg zum „Café Möhring“ und von dort über den weihnachtlich geschmückten Kurfürstendamm kutschiert zu werden. Der vom Sozialamt Marzahn organisierte Ausflug ist auch eine gute Gelegenheit, die Veränderungen in der Stadt bequem vom Bus aus zu besichtigen. Viele sind nicht mehr gut zu Fuß. „Es gibt Senioren, bei denen das Einsteigen schon der Höhepunkt der Reise ist“, so der Reiseleiter. Andere sind lange nicht mehr aus Marzahn rausgekommen.

Reiseleiter Witter hat es trotz künstlicher Hüft- und Kniegelenke und diverser Alterszipperlein seiner Reisegruppe mit einem munteren Völkchen zu tun. Statt ununterbrochen unterhalten zu werden, tun sie das lieber selbst. „Das Café Möhring kenne ich noch aus den 70er-Jahren“, erzählt Inge Grziwotz.

Weil die 64-Jährige einen Bruder und eine Schwester im Westteil der Stadt hat, durfte sie zu runden Geburtstagen rüberfahren. Doch ihre Erinnerungen sind mehr als blass: „Eigentlich erinnere ich mich nur an den Namen.“ Viel mehr eingeprägt hat sich etwas anderes: „Ich fand das immer besser als bei uns“, sagt sie. „Aber ich konnte meinen Mann doch nicht im Stich lassen.“

Als der Bus Unter den Linden erreicht, liest der Reiseleiter, mit 33 Jahren fast halb so alt wie seine Kundschaft, eine Weihnachtsgeschichte vor. „Tief im Wald lebt ein alter Einsiedler mit seinem Hund Lumpi“, beginnt das Märchen, das eher für Kinder geeignet wäre. Doch die meisten hören höflich zu, wie ungerecht „Lumpi“ es findet, dass nur Ochs und Eselein das Kind Jesus mit ihrem Atem wärmen, und wie er die Tiere des Waldes mobilisiert.

Renate Hacker und Inge Grziwotz tauschen inzwischen alte Erinnerungen aus. Als der Bus am Deutschen Historischen Museum vorbeifährt, muss Renate Hacker an ihren Schwiegervater denken. „Der war dort Restaurator“, erzählt sie. „Und der Sohn war Fleischer“, fügt sie lachend hinzu. Bei der Erinnerung an ihren verstorbenen Mann kommen ihr sofort die Tränen. Inge Grziwotz streicht ihr über die Hand und sagt „Es wird schon wieder.“ An der Ecke, wo früher das Lindencorso stand, wird Renate Hacker zum Glück abgelenkt. „Da war ich mit meinem Schwager aus Hamburg immer frühstücken“, erzählt sie. „War ja schön billig.“

Beim Hotel Adlon geht ein Raunen durch die Reihen. „Das Adlon“, ruft eine Frau. „Schön, nicht?“, sagt eine andere. Und Renate Hacker wartet mit der nächsten Geschichte auf. Bei der Hypobank am Ernst-Reuter-Platz erzählt sie, wie sie sich nach der Wende dort beworben hat. Nachdem sie bis zum Mauerfall Auslandsmonteure mit Valuta versorgt hat, fehlte ihr noch ein Jahr bis zur Rente. Weil sie mit 52 Jahren zu alt für die Bank war, ist sie ein Jahr lang putzen gegangen.

Nach einer knappen Stunde erreicht der Bus das Café Möhring gegenüber vom Schloss Charlottenburg. Da erst merkt Inge Grziwotz, dass sie einem Irrtum aufgesessen war. „Ich war damals im Möhring am Kurfürstendamm“, ruft sie aus.

An den mit Pflaumen,- Rhabarber- und Käsekuchen gedeckten Tischen setzen die Frauen ihre Gespräche fort. Eine rüstige 90-Jährige erzählt begeistert von einer Dokumentation über die Besteigung des Himalaya, die sie kürzlich gesehen hat. Auch wenn die Ausflügler nicht mehr die Jüngsten sind, sind sie nicht von gestern.

Als sie das Café verlassen, ist es dunkel. „Wir kommen aus dem Café raus und zack, ist es dunkel“, sagt Reiseleiter Witter, als die Gruppe in den Bus einsteigt. „An der Konzeption wurde monatelang gefeilt“, fügt er hinzu und landet einen Lacher. Nun sind es nur noch einige Kilometer auf der Stadtautobahn bis zu den versprochenen Lichtern. Zur Einstimmung läuft „Stille Nacht, heilige Nacht“. Am Adenauerplatz tauchen die ersten erleuchteten Weihnachtsdekorationen auf: Weihnachtsmänner, Krippen, Sterne und Schneemänner. „Das haben sie aber schön gemacht“, freut sich eine Frau. „Da ist ja Marzahn nichts dagegen“, bemerkt Inge Grziwotz und stößt ihre Freundin lachend an. „Bei uns ist es auch schön“, entgegnet Renate Hacker ganz ernst. „Dort sieht es aus wie einer, der will, aber nicht kann“, behält ihre Freundin unter Gegicker das letzte Wort.

Je mehr sich der Bus der Gedächtniskirche nähert, umso mehr macht die Lichterfahrt ihrem Namen alle Ehre. Da leuchten der Kreml, der Eiffelturm, der Big Ben und das Brandenburger Tor. Ein großer Baum gegenüber dem Weihnachtsmarkt hängt voller Lichter, Peek & Cloppenburg hat die gesamte Fassade erleuchtet. „Ich weiß gar nicht, wohin ich zuerst gucken soll“, staunt eine 80-Jährige. Für einige Sekunden herrscht Schweigen im Bus, das Lichtspektakel verschlägt selbst der redseligen Inge Grziwotz kurzzeitig die Sprache.

Als der Bus den Ku’damm verlässt, verschwinden auch die Weihnachtslichter. Während im Radio „Welch ein schöner Tag ist morgen“ läuft, kämpft sich der Bus durch den Feierabendverkehr in Richtung Marzahn. Renate Hacker ist froh, dass sie sich von ihrer Nachbarin zu der Fahrt hat überreden lassen. „Es war schön“, sagt sie. Nur über die Bemerkung des Busfahrers – „Lassen Sie weder Ihre Ehemänner noch Sonstiges liegen“ – kann sie nicht lachen.

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