Mentalität und Mythos

Rare Schellacks“ auf CD: In einer neuen Reihe erwachen Volkssänger aus Sachsen und Berliner „Großstadtklänge“ zu neuer Anschau- und Behaglichkeit ■ Von Anke Westphal

Freundlich zittert eine männliche Stimme den höheren Tonlagen entgegen: „Ich bin ein Mensch, dem alles ganz egal iss / dem jedes Vorwärtsstreben eine Qual iss / Ich halte täglich meine Sonntagsruh’/ bei mir sind Feiertage immerzu... Mir guckt de Faulheit aus’m Knopfloch raus / Ich mach ma nüscht draus!“

Der sächsische Volkssänger Arthur Preil trug die herrlichen Zeilen 1927 vor; sie entstammen dem Couplet „Der Phlegmatische“, das innerhalb der Trikont-Edition „Rare Schellacks“ zu neuer Behaglichkeit erwacht. Zwei neue Unterabteilungen gibt es: „Sachsen: Volkssänger 1910 – 1932“ und – natürlich des Länderkulturausgleichs wegen – auch „Berlin. Großstadtklänge 1908 – 1953“. Schon die Aufmachung ist durchaus ansprechend: Hier jovialer Sachse mit Melone auf dem kugeligen Sachsenhaupt, da ein pfeifender Berliner namens „Krücke“ mit Schiebermütze über der proletarischen Knollennase. Was verspricht diese ganze Herrlichkeit zunächst dem Heutigen? Nun, sie verspricht, dass die Leute früher viel mehr Spaß hatten und es nur recht und billig ist, noch nachträglich etwas davon abhaben zu wollen. Die Exotik der Trikont-Produkte verdankt sich also nicht allein ihrem Regionalstil.

Hier Sachse, da Berliner, hier Bayer, da Wiener. Klischees sind verdünnte Grundwahrheiten. So arg verdünnt, dass der sich gebildet dünkende Mensch ihren winzigen Restwahrheitsgehalt grundsätzlich negiert oder wenigstens verachtet, um sich adäquat platt über die Ebenheit der Klischees zu „beöllern“ (i.e. „kaputtzulachen). Diese – wiewohl törichte – Verachtung gehört zu jenen reflexhaften Distanzmechanismen, die Blick und Geist unziemlich verengen können.

Da den sächsischen Volkssängern und Berliner Großstadtkünstlern diese Herablassung der obersten Schichten gegenüber den direkt-regionalen Wahrheiten der Straße jedoch bekannt war, erhoben sie sich ihrerseits durch deren Bekräftigung über die Ächtung. Das geeignete Mittel der Künstler war Identifikation durch Ganzkörpereinsatz. Walther Kiaulehn hat diesen Einsatz sehr schön in „Berlin – Schicksal einer Weltstadt“ beschrieben: Anfangs, so zwischen 1900 und 1914, wurden nur die Komiker vom Unterhaltungsetablissement bezahlt, die Soubretten und Sänger hingegen bekamen „Korkengeld“, was bedeutete, dass sie am Bierumsatz beteiligt waren. Je vehementer das Publikum mitgrölen konnte, desto durstiger wurde es und desto höher gestalteten sich die Einnahmen der Sänger – ein im Ganzen sportliches System. Der den Gesang Vortragende repräsentierte, ob in Berlin oder Leipzig, auf jeden Fall das „Gemüt“ „seiner“ Großstadt und die Mentalität der Region. So säuselt denn vor „Der Phlegmatische“ auch „Der gemietliche Sachse“, so findet man „Max hat’n Knax“ gleich neben dem „Berliner Zoo“.

So weit, so gut. Man könnte annehmen, dass die beiden neuen Trikont-Sampler in historischer und regionaler Hinsicht illustrativ vorgehen. Das stimmt nur bedingt, denn gerade Sachsen weist enorme binnenregionale Unterschiede und weiße Flecken auf, was seine populärmusikalische Geschichte angeht. Das zentrale Sachsen galt vor Ende des Zweiten Weltkriegs als industriell höchstentwickelte Region Deutschlands, während das randständig gelegene Erzgebirge arm blieb. Diesen Differenzen versucht die Trikont-Edition in Ausschnitten gerecht zu werden. Doch da etwa Dresden, und damit die Dresdener musikalischen Sammlungen, während der Bombardierungen von 1945 fast völlig zerstört wurden, verzeichnet die CD kaum Dresdner Sänger.

Das Spaßversprechen des CD-Designs sollte auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es einige Anstrengung erfordert, diese Musik anzuhören, namentlich, was die Sachsen-Abteilung angeht. Natürlich rauscht und knackt es wie doll und verrückt, schließlich gehört sich das auch so, doch insbesondere das Erzgebirgische (Anton Günther) stellt eine Hör-Herausforderung dar. Die Booklet-Texte erzählen viel Interessantes zu Zeit und Künstlern, ebenso zweckmäßig wäre jedoch der Abdruck aller besonders dialektgeprägten Texte gewesen. Warum fehlt das? Hat es kein Schwein verstanden? Nicht genug Platz im Booklet? Fragen über Fragen. So muss, was singende klingende Kulturgeschichte hätte werden können, in puncto Erzgebirge vor allem am Sound andocken – ein Problem, das sich schon bei der Trikont-Ausgabe von Bayern-Schellacks stellte. Dass die Berliner „Großstadtklänge“ auch musikalisch eine größere Bandbreite anbieten – Couplets, Chansons, Schlager, frühe Rundfunkanmoderationen, Tanznummern –, mag sich dem Moderne-Metropolenmythos verdanken.

Bezeichnenderweise waren die beiden beliebtesten Vertreter des „echten Berlinas“ Zugezogene: Otto Reuter stammte aus der Altmark, Claire Waldoff aus Gelsenkirchen. Der durchaus integrative Trick der Vortragenden bestand von Anfang an darin, alle Herkunft im großstädtischen Schmelztiegel aufzulösen und höhere Bürgerkultur in gebräuchliches Straßen-und-Gossen-Gut zu verwandeln. So wurde beispielsweise aus dem Walzerduett in „Die Fledermaus“ von Johann Strauß schnell ein „Jlücklich ist / wer verfrisst / was nich zu versaufen ist!“

Der Mythos von der Berliner Kodderschnauze, „die ein Würstchen / mit Senf beschmiert“ will (Homocord Orchester), lässt sich seither nicht mehr abschaffen. „Ich reiß mir eine Wimper aus / und stech dich damit tot!“ frohlockte Max Hansen 1928, und die sowohl gemeine als auch gut gelaunte Verschiebung zwischen Text und Musik funktioniert bis heute. Die Straße war Familie.

Claire Waldoff etwa, die bekannte Berliner Diseuse, flog 1906 wegen zu großen Erfolgs aus dem Theater am Nollendorfplatz. Ihre Schauspielerkollegen hatten sich schwarz geärgert, weil das Publikum regelmäßig in Freudengeheul ausbrach, wenn die Anfängerin Waldoff ihren einzigen Satz aufsagte: „Wat jeht mir Jelbsiejel an!“ Tempo plus Frechheit neben Tränenseligkeit – „Sehnse, det is Berlin“! Dieses Klischee benötigte, wie jedes Klischee, sein Gegenteil. Vom Sachsen hieß und heißt es, er sei „gemietlich“, fleißig und geschäftstüchtig, vom Preußen, er sei pingelig, derb und karg.

Der phonetisch repräsentierte, im Grunde aber mentale Separatismus befördert, was die Trikont-CDs anlangt, die Übersicht beim Genießen, auch wenn die Vielfalt des kulturellen Austauschs dabei ins Hintertreffen gerät. Macht nichts. Walter Benjamin zufolge ist der Komplettierungswahn sowieso eine Wesenseigenschaft des Kleinbürgers. Da nehmen sich ein paar Leerstellen direkt souverän aus. Die Sachsen dieser Edition bekannten sich jedenfalls schon um 1912 zur souveränen Lücke: „Unser Vorbild ist Karl May / er schlummere sanft im Sarkophag“. Und Karl May hat bekanntlich weder in Amerika noch jemals im wilden Kurdistan geweilt.

„Berlin: Großstadtklänge. Rare Schellacks 1908 – 1953“ und „Sachsen: Volkssänger. Rare Schellacks 1910 – 1932“ (Trikont)