Gottloses Berlin

Ist die deutsche Hauptstadt die Weltkapitale des Atheismus? Regiert hier auch der Teufel? Oder nur der Teufel? Das Schlagwort vom „gottlosen Berlin“ macht die Runde. Der Umzug der Regierungsbonner gleiche einem Weg durch die Wüste, warnte der Kölner Kardinal Meisner. Tatsächlich leben in keiner anderen deutschen Millionenmetropole prozentual gesehen so wenige Christen. Aber ist die Stadt deshalb gottlos? Und wenn ja: Wie lebt es sich damit? In der Kirche. In der Schule. Auf dem Friedhof. Eine Suche nach dem Geist, der weht, wo er will ■ Von Philipp Gessler

Armer Kardinal! Er wollte doch nur Mut machen. „Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht“, zitierte der Kölner Erzbischof Joachim Meisner den Psalm 23, „ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir.“ Im Bonner Münster stärkte der erzkonservative Gottesmann Ende Mai seine Schäfchen unter den Beamten und Politikern der Bundesstadt mit einer Messe für ihre neue Aufgabe: den Umzug nach Berlin. Den setzte er mit einem „Weg durch die Wüste“ gleich. Ein oberhirtlicher Rufmord. Georg Kardinal Sterzinsky, Erzbischof von Berlin, verkündete pikiert in seiner Fronleichnamspredigt: „Berlin ist nicht gottlos.“ Die 5.000 Gläubigen verstanden den Wink und unterbrachen, selten genug, die Predigt mit Beifall. Auch der evangelische Landesbischof Wolfgang Huber fühlte sich bemüßigt, den Kampfbegriff aufzunehmen. „Berlin ist keine gottlose Stadt“, versicherte er den Gläubigen beim Begrüßungsgottesdienst für die Bonner Ende Oktober im protzigen Berliner Dom, „keine Angst“. Dennoch ist die Debatte „gottloses Berlin“ seither in der Welt.Was ist dran? Ist die größte deutsche Stadt die „Welthauptstadt des Atheismus“, wie der Religionssoziologe Peter L. Berger einmal gesagt hat? Wohnt der Leibhaftige in Berlin?

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Zumindest der echte Alte schien das geglaubt zu haben: Von Konrad Adenauer ist der Spruch überliefert, bei Braunschweig beginne für ihn die asiatische Steppe, in Magdeburg ziehe er die Vorhänge im Zugabteil zu, bei der Fahrt über die Elbe spucke er jedes Mal aus dem Fenster – und in Berlin habe er sich wie in einer heidnischen Stadt gefühlt.

Auch dem Papst sind solche Gefühle nicht fremd, ihn packte vor drei Jahren in Berlin missionarischer Eifer. Im Hubschrauber über dem Areal der früheren Reichskanzlei Hitlers fliegend, erklärte Johannes Paul II. nach langem Schweigen seinen Begleitern: „Berlin – das ist der Inbegriff von Preußen, das ist ganz dichte Gegenwart der Zeit des Nationalsozialismus, das ist die lebendige Gegenwart des Kommunismus. Und da muss ich hin, da muss der Papst hin.“ Berlin ist offenbar der Angsttraum (halb-)toter katholischer Männer. Warum?

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Berlin, das ist für traditionsbewusste Katholiken Symbol des preußischen Deutschen Reiches, ein Zeichen der jahrzehntelangen protestantischen Vorherrschaft. Berlin war die Hauptstadt des Kirchenkampfes am Ende des vergangenen Jahrhunderts, als die Berliner Regierung Katholiken als „Reichsfeinde“ gängelte.

Während der Nazizeit sollen im erst 1930 errichteten Bistum Berlin zehn Prozent des katholischen Klerus verhaftet oder ermordet worden sein. Auch auf evangelischer Seite ist das Klagen über die kirchenferne Hauptstadt alt. Schon im Jahr 1881 hieß es auf einer Synode, Berlin gelte „im Ausland als unkirchlichste Stadt der Welt“. Und der Journalist und Autor Alfred Kerr hielt 1895 fest, sämtliche Berliner Prediger klagten über mangelhaften Kirchenbesuch, gängig sei der Spruch: „Ein trauriger Anblick – die Sonntagsleere einer Kirche und ein Brunnen, der kein Wasser mehr gibt.“ In Luthers Kirchen besuchten bereits 1870 nur zwei Prozent die Sonntagsgottesdienste.

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Betrachtet man die absoluten Zahlen, ist Berlin mit seinen knapp 3,5 Millionen Menschen kein gottloser Ort – im Gegenteil: Es ist mit 850.000 Protestanten die größte evangelische Metropole Deutschlands, die drittgrößte katholische Stadt der Bundesrepublik (300.000), und die Muslime bringen es auch noch auf 200.000 Gläubige. Die wachsende jüdische Gemeinschaft hat mehr als 10.000 Mitglieder.

Konzentriert man sich jedoch auf die großen Kirchen und vor allem auf die prozentualen Zahlen, sieht die Sache anders aus: Nur noch etwas mehr als ein Drittel (34 Prozent) gehören zu den beiden Großkirchen, die Mehrheit der Berliner gehören überhaupt keiner Konfession an. In Bonn sollen dagegen etwa 80 Prozent Christen sein. Der Anteil der Protestanten und Katholiken an der Gesamtbevölkerung ist in Berlin viel geringer als in allen anderen Millionenmetropolen Deutschlands. So sind in München fast drei Viertel der Bevölkerung Christen, in Köln zwei Drittel und selbst in Hamburg sind es noch mehr als die Hälfte. Die niedrige Quote liegt natürlich vor allem an dem Osten der Stadt, wo etwa 90 Prozent der Bevölkerung konfessionslos sind.

Und selbst wer in Berlin noch in der Kirche ist, geriert sich in der Regel weniger fromm als im Bundesdurchschnitt: In der Hauptstadt ist die Quote der Gottesdienstbesucher bei den Katholiken um ein Viertel, bei den Protestanten um die Hälfte geringer als im bundesdeutschen Schnitt, nämlich nur 13 und 2 Prozent – wie 1870.

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Seit 23 Jahren ist Edgar Kotzur Pfarrer von St. Matthias in Schöneberg, einer traditionellen katholischen Gemeinde. Regelmäßig liest er auch lateinische Messen. Kotzur (63) beschreibt seine Gemeinde als „lebendig“. Die Zahl seiner Kommunionskinder, erzählt der Pfarrer, sei in all den Jahren konstant geblieben. Immer etwa 80. „Das Vaterunser aber darf ich heute nicht mehr als bekannt voraussetzen“, sagt er. Auch wenn viele Gemeindemitglieder immer weniger religiöses Wissen mitbrächten, lasse er sich doch nicht die Möglichkeit entgehen, ihnen wenigstens etwas beizubringen. Wie eine „Rose von Jericho“, die verschrumpelt das ganze Jahr im Schrank liegen könne, aber aufblüht, wenn man sie ins Wasser lege: „Man sät – wann der Samen aufgeht, weiß ich nicht.“

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Im Flur der nagelneuen Wohnung des Ministerialbeamten hängen alte Stiche seiner Vorfahren: Jahrhundertelang waren es nur Pfarrer. Sie blicken ernst auf einen Bücherbord mit der zweibändigen „Geschichte der Stadt Bonn“. Seit Anfang September ist der Beamte im neuen Regierungssitz, er hat sich tatsächlich im extra für Abgeordnete und Staatsdiener gebauten schlangenförmigen Wohnkomplex am Tiergarten eingemietet.

Heute Abend ist seine Nachbarin zu Gast. Die ist Mitarbeiterin eines Abgeordneten aus Bayern und im Vorstand des Bundes katholischer deutscher Akademikerinnen. „Sicher“, sagt die Dame beim Rotwein, habe es unter den Bonnern, die an die Spree mussten, eine „große Befürchtung“ gegeben, ins so wenig religiös geprägte Berlin ziehen zu müssen.

In Bonn hat der Beamte niemanden gekannt, der nicht in der Kirche gewesen ist: „Das gehörte sich einfach so.“ Dass viele Minister bei ihrer Vereidigung nicht die Zusatzformel „So wahr mir Gott helfe“ genutzt hätten, sagt sie, „das hat mich gestört“. Für ihn als Christen, sagt der Beamte, sei der geringe Anteil an Kirchenmitgliedern in Berlin „ein Problem“.

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Das Sekretariat der Bischofskonferenz mit seinen 130 Mitarbeitern scheut noch davor zurück, vom katholischen Rheinland nach Berlin zu ziehen. Ins Zentrum der Macht. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken hat in Berlin nur eine Außenstelle. Kardinal Sterzinsky hat seine Kirche ermahnt, den Umzug „beherzter“ anzupacken. Sonst drohe eine „Selbstmarginalisierung“. So warnen katholische Intellektuelle.

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Ein Stück Kreide fliegt in Richtung Lehrer – vielleicht, weil ein Journalist zuguckt. Vielleicht auch nicht. Matthias Röhm, der einzige Religionslehrer in der „Oberschule an der Marzahner Promenade“, findet das „richtig doof“. Das sagt er den Schülern auch. Sie sind freiwillig da. Darum geht es in der Debatte, die in Berlin derzeit wieder intensiv geführt wird.

Die Frage des Religionsunterrichts ist zu einer politischen Glaubensfrage verkommen. Im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern ist der Religionsunterricht in der Hauptstadt kein ordentliches Lehrfach, auch kein Wahlpflichtfach: Wer ihn nicht besuchen will, muss auch keinerlei Ersatzfach wie etwa Ethik belegen. Er kann einfach zu Hause bleiben.

Dennoch sind immerhin sieben Zehntklässler im Gesamtschulzweig der schmuddeligen Schule inmitten von Plattenbauten früh aufgestanden, um ab 8 Uhr Röhms Unterricht zu folgen. Niemand schreibt mit, die meisten Plastikstühle bleiben während des Unterrichts auf den Tischen stehen, an einer Stelle des Raums ist der Boden so abgewetzt, dass darunter der nackte Beton zu sehen ist. Es geht um Symbole. Eine Schülerin will den Davidstern an die Tafel malen und zeichnet stattdessen ein Pentagramm. „So gut wie nichts“, erzählt Röhm später, wüssten sein Schüler über Religion – und wenn, dann alles nur über die Glotze.

Der Pädagoge Röhm (35) trägt Nickelbrille und Holzfällerhemd. Er hat nur so genannte Randstunden, also die ganz frühen oder späten Stunden, die 7. oder 8. Auch in der „0. Stunde“ muss er Unterricht geben. Die beginnt um 7 Uhr früh. Trotzdem kämen Schüler, freiwillig. „Hier ist es nicht gottloser als anderswo“, sagt er, „vielleicht ist in Berlin bloß die Bigotterie nicht so groß wie woanders.“

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Es gibt Faltblätter zur Hilfe beim Kirchenaustritt. Sie liegen in der Landesgeschäftsstelle des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD) aus. Werner Schultz, Abteilungsleiter für Bildung und Humanistische Lebenskunde, meint, dass sich Berlin zu einer gottlosen Stadt entwickelt. Das kommt seinem agnostisch-atheistischen Verband zupass, der in Berlin über 20.000 Schülern „Lebenskunde“-Unterricht anbietet.

Allerdings, sagt Schultz, gebe es religiöse Bedürfnisse, die oft etwa in Esoterik-Gruppen aufgefangen würden. Alle PR-Kampagnen der Kirchen griffen nicht: „Die Kirchen werden immer leerer.“ Der HVD organisiert Jugendfeiern, die in der Tradition der DDR-Jugendweihen stehen. Im Oktober verschickte er eine Pressemitteilung. Hauptnachricht: Laut Statistischem Landesamt leben in Berlin immer weniger Christen.

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Die Zahl der Kirchenaustritte sinkt in beiden Großkirchen seit Jahren. Bei den Katholiken von 6.500 im Jahre 1995 auf 3.700 im vergangenen Jahr. Bei den Protestanten von 21.000 auf 11.000. Gleichzeitig steigt jedoch die Zahl der Wiedereintritte in die Kirchen – auf protestantischer Seite von 1.300 (1995) auf 2.200 (1998).

Die Landeskirche hat drei „Wiedereintrittsstellen“ gegründet, eine davon ist im Dachstuhl der Kirche zum Heiligen Kreuz in Berlin-Kreuzberg. Zwischen viel Glas, Stahl und rotem Backstein hat Superintendent Lothar Wittkopf sein Büro: „Niederschwellig“ nennt er sein Angebot. Wer hierher komme, könne unkompliziert, schnell und unabhängig von einem Gespräch mit dem Ortspfarrer, der manchmal ein Grund für den Austritt war, wieder in die Kirche eintreten. Vielen, auch „68er-Leuten“, gehe es darum, „wieder eine Sache in Ordnung zu bringen, die sie als falsch erkannt haben“. Wittkopf (54) trägt eine Goldrandbrille. Er wolle die damalige Entscheidung zum Kirchenaustritt nicht kleinreden, sagt er. Er müsse sie auch im Nachhinein respektieren. Einen Wiedereintritt wollten überwiegend Akademiker zwischen 30 und 50 Jahren, die im Laufe der Zeit eine andere Weltsicht bekommen hätten oder häufig auch mit Fragen ihrer Kinder nach dem Sinn ihres Lebens konfrontiert würden. Für gottlos hält er die Hauptstadt nicht. Berlin sei aber „immer ein bisschen deftig und unbefangener im Umgang mit dem lieben Gott“ gewesen. Das sei doch erfrischend.

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Die Fenster der Kappelle sind grau-weiß. Unter dem Kruzifix steht neben zwei siebenarmigen Kerzenleuchtern die königsblaue Urne des Verstorbenen. Uwe Zühl tritt vor den Altar der katholischen Kirche und redet über den Toten. Deutet seine Sauferei an, erwähnt die vier Kinder aus fünf verschiedenen Beziehungen, spendet Trost mit alten und neuen Gedichten – das Wort Gott fällt kein einziges Mal. Zühl (44) ist freiberuflicher Beerdigungsredner: Wer ihn bucht, will in der Regel nichts von göttlichem Beistand wissen. Als die Urne in den Boden gelassen wird, wimmert eine Vietnamesin leise vor sich hin. Es ist die letzte Frau des Verstorbenen.

Hier im Osten Berlins liegt die Zahl der Urnenbeisetzungen bei 83 Prozent. Zudem lassen sich ein Drittel der Berliner anonym beerdigen, ohne Trauerfeier, ohne Grabstein. Seit 1991 ist die Zahl der anonymen Beerdigungen um zwölf Prozent gestiegen.

Zühl will, dass die Trauernden „mit einem guten Gefühl“ den Friedhof verlassen. Für den Historiker ist es „das Große, das Tolle an dieser Stadt“, dass hier jeder in der Tradition des Alten Fritz nach seiner Fasson selig werden könne. Nach seiner Fasson. „Alles hat seine Zeit“, den Satz hat Zühl der Trauergemeinde als Trost mit nach Hause gegeben. Dass dieser Spruch aus der Bibel stammt, war ihm neu.