Türkei will AKW in Erdbebengebiet

Die Regierung drängt auf eine Entscheidung über die Baufirma. Eine deutsche Beteiligung mit Siemens steht auch zur Wahl

Istanbul (taz) – Ein Alptraum wird wahr: Die türkische Regierung zeigt sich trotz aller Proteste wild entschlossen, das erste AKW des Landes in Akkuyu an der Mittelmeerküste bauen zu lassen. Der Gewinner der seit Jahren immer wieder verschobenen Ausschreibung soll in den nächsten Tagen bekannt gegeben werden. Hinter den Kulissen wird mit einer Entscheidung für den amerikanischen Westinghouse-Konzern gerechnet, für den Al Gore höchstpersönlich Lobby macht, zur Wahl steht aber auch das deutsch-französische Konsortium „Nuclear Power International“ (NPI) mit der Siemens-Tochter Kraftwerkunion (KWU) und Framatome.

Die Kohl-Regierung wollte die KWU bei der Akkuyu-Ausschreibung mit Hermes-Bürgschaften unterstützen. Auch in der rot-grünen Koalition wird eine deutsche Unterstützung diskutiert – wegen der Brisanz des Themas allerdings nur hinter streng verschlossenen Türen. Dritter im Bund ist der kanadische Atomkonzern AECL.

Die Türkei hatte ihr Atomprogramm schon vor 30 Jahren entworfen. Dann lag es lange auf Eis – mal waren es finanzielle Probleme, dann Militärputsche, die den Bau von Kernkraftreaktoren verhinderten. Nun soll es im November 2000 mit dem Bau des ersten Reaktors losgehen, der 2005 ans Netz kommen soll. Bis 2020 will die Türkei zehn AKWs bauen lassen. Die unter zu wenigen Aufträgen leidende Atomlobby reibt sich die Hände und übt dabei starken Druck auf Ankara aus, schürt dort die Angst davor, vom russischen Erdgas abhängig zu werden. Viel zu hoch angeschlagene Energiebedarfskalkulationen und verharmlosende Berichte über „saubere Atomkraft“ runden das Bild des türkischen Atomprogramms ab. Denn, so glaubt Ankara, „die Türkei darf die modernen Entwicklungen in Bezug auf Atomkraft nicht verschlafen“. Dass viele „moderne“ Staaten gerade den Ausstieg beschließen, wird politisch völlig ignoriert.

So wird es auch eine politische Entscheidung werden, wer den Auftrag für das Akkuyu-AKW bekommt – der derzeitige große Freund und Helfer USA oder die Westeuropäer als Dank dafür, dass sie das EU-Tor einen Spalt breit geöffnet haben. Das deutsch-französische NPI will einen Reaktor vom Typ Neckarwestheim-2 nachbauen und offeriert auch noch eine Wiederaufbereitungsanlage für den anfallenden Müll, der erst einmal unter den Taurusbergen vergraben werden soll, wie der NPI-Chef Ulrich Fischer im Juli 1998 in Istanbul einem entsetzten Publikum vorschlug.

Akkuyu liegt in der Nähe der Stadt Silifke an der Mittelmeerküste, 300 km östlich von Antalya. Entgegen der vor 30 Jahren erstellten offiziellen Expertisen ist der Standort von Erdbeben bedroht – nach jüngeren Untersuchungen türkischer und kanadischer Geologen ist der nur 20 km entfernt liegende Ecemis-Graben immer noch aktiv. Neben Erdbebengefahr liegt Akkuyu, eine malerische Bucht inmitten von Orangen- und Mandarinengärten, in der Nähe touristischer Zentren wie Alanya und Antalya und würde beim kleinsten Störfall die gesamte Tourismusindustrie lahmlegen.

Anti-AKWler wie Melda Keskin von Greenpeace oder Aktivisten der Istanbuler Antinuklearen Plattform weisen seit Jahren darauf hin, dass die Türkei ihren wachsenden Energiebedarf sehr wohl decken kann, ohne vom russischen Erdgas abhängig zu werden. Prof. Tolga Yarman, einer der bekanntesten Anti-AKWler des Landes, weist darauf hin, dass die Türkei zur Zeit nur 30 Prozent ihrer Braunkohle- und Wasserkraftreserven nutzt. Alternative Quellen wie Wind, Sonne oder Biomasse kommen in den Regierungsplänen kaum vor, mit dem gewohnten Argument, diese könnten „niemals den wachsenden Bedarf decken“. Daneben vergeudet das Land allein 18 Prozent des Stroms bei der Verteilung – durch verbotenes „Abzapfen“ in armen Großstadtvierteln oder einfach durch schlechte Infrastruktur.

Umweltverbände aus der Region waren 1995 vors Gericht gegangen, um Akkuyu zu stoppen. Ihr Antrag wurde in allen Instanzen abgelehnt. Jetzt, wo Projekt und Widerstand in die heiße Phase gehen, zählen türkische Aktivisten nicht zuletzt auf Unterstützung aus Deutschland. Dilek Zaptcioglu