: Bis dass der Tod entscheidet
■ Wladimir Putin drängt auf eine Entscheidung im Tschetschenienkrieg. Grosny soll mit einer „Sonderoperation“ eingenommen werden. Tschetschenen wollen nicht kapitulieren
Ein Ende des Tschetschenienkrieges? „Es ist nah“, meint Russlands Kriegspremier Wladimir Putin, ohne sich genauer festzulegen: „Wir setzen weder ein fixes Datum noch bestehen wir auf einer Frist.“ Appeasement gegenüber dem Westen oder Ruhe vor dem letzten Sturm? Welche Strategie Moskau in der abtrünnigen Kaukasusrepublik verfolgt, bleibt auch weiterhin im Dunkeln.
Offenbar erhielten russische Kommandeure vor Ort inzwischen Weisung, die Hauptstadt Grosny in einer groß angelegten „Sonderoperation“ zu nehmen. „Die notwendigen Mittel und Kräfte für die Durchführung einer militärischen Operation sind rund um Grosny konzentriert worden“, verlautete dazu aus Militärkreisen. Luftstreitkräfte und Artillerie setzten unterdessen gestern die Angriffe auf die belagerte Festung fort.
Nach wie vor herrscht Unklarheit, ob mit der angekündigten „Spezialoperation“ ein „Sturm“ der Ruinenlandschaft gemeint war. Premier Putin hatte einen „Frontalangriff“ auf Grosny jedoch noch ausgeschlossen. General Wiktor Kasanzew behauptete unterdessen, die Armee hätte die Verteidigungsfähigkeit der tschetschenischen Freischärler in den letzten Tagen erheblich geschwächt. „Sie eilen von einem Ende der Stadt zum andern“, um ihre Stellungen zu verteidigen.
Kasanow räumte allerdings ein, die russischen Truppen seien noch nicht bereit, die Stadt zu stürmen. Offenbar hat das massive Flächenbombardement die Verteidigungskraft des Gegners bisher nicht entscheidend beeinträchtigt. Die Rebellen „warten darauf, dass wir vorrücken, unsere Panzer auf Minen laufen, explodieren und wie Fackeln brennen“, sagte Kasanzew. Westliche Journalisten berichteten, etwa 8.000 Kämpfer befänden sich in den Trümmern, die bereit seien, „bis zum letzten Mann“ auszuhalten. Scheinbar haben in den Vortagen Freischärler aus Richtung Stary Atagi und Grosny gleichzeitig Angriffe auf russische Stellungen lanciert. Wie üblich dementierte die Armeeführung. Die Zeitung Iswestija nahm das aber zum Anlass, um Stimmungsberichte der Armeeleitung zu hinterfragen, wonach unter den Rebellen in der eingeschlossenen Stadt inzwischen Panik ausgebrochen sei.
Strategisch spielt es keine Rolle, welche Seite Grosny letztlich beherrscht. Das Katz-und-Maus-Spiel, das einem zermürbenden Stellungskrieg gleicht, treibt den symbolischen Wert der Festung indes mit jedem weiteren Tag in die Höhe. Auch daher scheint Premierminister Wladimir Putin inzwischen auf eine Entscheidung zu drängen. Zieht sich der Krieg weiter in die Länge, so mag er befürchten, sinkt der symbolische Wert eines flatternden russischen Banners auf den Ruinen von Grosny gegenüber der emotionalen Kraft, die in der Heimat eintreffende Zinksärge spontan freisetzen könnten.
Zuverlässige Angaben, wie viele Zivilisten in den Kellern ausharren, gibt es nicht. Russische Quellen meldeten, 3.500 Flüchtlinge hätten gestern die Stadt verlassen. Schätzungen gehen weiterhin von 4.000 bis 40.000 Zivilisten aus, die in Katakomben und Kellerverliesen ausharren. Schwere Kämpfe finden auch in Südtschetschenien statt. Russische Einheiten versuchen in der Nähe des Dorfes Schatoj, den Zugang in die Bergregion zu blockieren, wohin sich ein Großteil der Rebellen zurückgezogen hat. Unterdessen hat die russische Generalität ihre Anstrengungen verstärkt, das einzige Schlupfloch von Tschetschenien zur Außenwelt zu stopfen. Gestern griffen Einheiten den Grenzort Schatili in den georgischen Bergen an.
Mehrere Bürger des Nachbarstaates wurden bei den Angriffen verletzt. Georgiens Sicherheitsrat wies Vorwürfe des russischen Außenministeriums zurück, wonach der transkaukasische Staat den tschetschenischen Rebellen Hilfe leiste. Russland drohte Tiflis auch mit Wirtschaftssanktionen. In der georgischen Hauptstadt vermutet man, die Anschuldigungen hingen „mit innenpolitischen Kalkülen Moskaus“ zusammen.
Tschetschenische Quellen, deren Angaben – wie auch jene der russischen – von Propagandamotiven geprägt sind, behaupteten, Rebellen hätten in der besagten Bergregion einer russischen Fallschirmjägereinheit schwere Verluste zugefügt. Etwa tausend Elitesoldaten waren vor einer Woche fünf Kilometer südlich von Schatili auf tschetschenischem Gebiet abgesprungen, um den Nachschubweg zu kappen. Ein tschetschenischer Feldkommandeur sprach sogar davon, die Einheiten seien umzingelt und könnten nicht mehr aus der Luft versorgt werden.
Klaus-Helge Donath, Moskau
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