„Ich wäre lieber gestorben“

Über einen Monat nach dem zweiten verheerenden Erdbeben in der Türkei hausen viele Überlebende in Zelten. Gegen die klirrende Kälte gibt es nur heißen Tee ■ Aus Düzce Jürgen Gottschlich

Der emotionale Ausnahme-zustand ist beendet, jetztbeginnt das Leben mit den Folgen des Erdbebens

Der größte Feind ist die Kälte. Danach kommen der Regen, der Schlamm und der Nebel, aber am schlimmsten ist die Kälte. Sie dringt auch durch drei Pulloverschichten, kriecht in die Zelte, macht die tägliche Hygiene zur Qual und bestimmt so den gesamten Tag und die Nacht sowieso. Am schlimmsten ist es zwischen ein und vier Uhr morgens. Es ist so kalt, dass viele Leute aus ihren Zelten kriechen und versuchen, sich durch Bewegung etwas aufzuwärmen.

Mustafa ist gar nicht erst schlafen gegangen. Zusammen mit etlichen anderen frierenden Männern steht er um einen Kleinbus, der zu einer mobilen Teestation umgebaut wurde und auf dem Marktplatz von Düzce Station bezogen hat. Hier wird die gesamte Nacht über heißer Tee gereicht. Wenigstens für einen Moment wärmt der von innen etwas auf und wenn man dann noch ins Plaudern kommt, gelingt es, die ganze Misere für einen kurzen Moment lang zu verdrängen.

Der 28-jährige Mustafa hilft beim Ausschank. Dafür kann er einen Container, den die Stadt Istanbul zusammen mit dem Teewagen nach Düzce geschickt hat, mitbenutzen und sich immer mal wieder für einen Moment ins Warme setzen. Einen anderen Platz um sich aufzuwärmen gibt es für Mustafa nicht mehr. Sein Haus ist während des zweiten großen Bebens, das einen Teil der Türkei am 12. November erneut erschütterte, zusammengebrochen. Seitdem hausen er und seine Frau in einem Zelt.

Düzce war das Zentrum des zweiten Bebens. Was nach den verheerenden Erdstößen im August noch stehen geblieben war, brach im November endgültig zusammen. Seitdem ist die Stadt, in der 80.000 Menschen lebten, zu 95 Prozent zerstört. Auf jedem freien Fleck steht nun ein Zelt, in dem sich die verbliebenen 30.000 Obdachlosen, die die Stadt noch nicht verlassen haben, drängen.

Während die Männer am Teewagen stehen, gellen plötzlich Schreie aus dem Dunkel. Ein Zelt hat Feuer gefangen, eine meterhohe Stichflamme schießt in die Nacht. Hektisch rennt alles in Richtung Feuer, angrenzende Zelte werden aus der Verankerung gerissen und weggetragen, verstörte Menschen, aus dem Schlaf gerissen, irren über den Platz. Als die Feuerwehr nach ein paar Minuten eintrifft, ist das Zelt längst abgebrannt. Es glühen nur noch einige Decken und ein Holzgestell. Zum Glück wurde niemand verletzt, erst wenige Tage zuvor war bei einem Zeltbrand ein zwei Monate altes Baby getötet worden.

Doch so gefährlich es ist, mit offenem Feuer in den Zelten zu hantieren, ohne Ofen und ohne Kocher kann man bei den Minusgraden nicht überleben. Aus allen Zelten ragen Ofenrohre. Meistens wurde die Heizung provisorisch eingebaut und ist entsprechend gefährlich.

Als sich die erste Aufregung über den Brand gelegt hat, ist die Gruppe am Teewagen noch größer geworden. Nachdem die gesamte Türkei nach dem Jahrhundertbeben im August monatelang kein anderes Thema diskutierte, ist jetzt das öffentliche Interesse merklich erlahmt. Die Menschen, die während des zweiten Bebens alles verloren haben, fühlen sich allein gelassen. Zwar ist die staatliche Reaktion nicht mehr so chaotisch, war die Katastrophenhilfe wesentlich professioneller als beim ersten Mal, doch für den Rest der Gesellschaft geht das Leben wieder seinen gewohnten Gang. Der emotionale Ausnahmezustand ist beendet, jetzt beginnt das Leben mit den Folgen des Bebens. „Für uns“, glaubt Mustafa, „interessiert sich kaum noch jemand.“

Die Regierung glaubt, das Problem mittlerweile im Griff zu haben. Stolz verkündete Bauminister Koray Aydin, die Behörden hätten ihr Versprechen, bis zum Winteranfang 26.000 Fertigbauhäuser aufzustellen, fast erfüllt. Wer dann noch keinen Platz habe, könne in eine der Ferienwohnungen des Staates im Süden des Landes ziehen, versprach Ministerpräsident Bülent Ecevit.

Mustafa kommt aus Kaynasli, einer Kleinstadt zehn Kilometer östlich von Düzce, die noch höher in den Bergen liegt und wo es deshalb noch kälter ist. Trotzdem will er nicht in den warmen Süden. Wie er und seine Familie sind fast alle Einwohner, die überlebt haben, im zerstörten Kaynasli geblieben. „Wir lieben diese Heimat“, sagt Mustafa. „Außerdem: Wovon sollen wir im Süden leben?“ Jede Familie, die ihr Haus oder ihre Wohnung verloren hat, bekommt vom Staat als Unterstützung ein Jahr lang jeden Monat umgerechnet rund 400 Mark. Dieses Geld ist als Mietbeihilfe gedacht. Wenn die Familie eine vom Staat zur Verfügung gestellte Unterbringung in Anspruch nimmt, ein Fertigbauhaus oder einen Hotelplatz im Süden, entfällt die Mietbeihilfe. Für die meisten Erdbebenopfer sind die 400 Mark aber alles, was sie haben, weil sie außer ihrer Wohnung auch den Job los sind. Schon deshalb bleiben viele, wo sie sind, auch wenn es klirrend kalt. „Die Hälfte der Leute hier könnten wir nach Süden bringen“, erzählt Bürgermeister Efdal Altundal, „aber sie wollen lieber hier bleiben.“ „Wir brauchen deshalb dringend gute Winterzelte.“

In einem großen, lichtdurchlässigen Zelt, herrscht ein infernalischer Lärm. Etwa 40 Kinder toben auf engstem Raum umher, andere zeichnen. Das UN-Kinderhilfswerk Unicef hat zusammen mit dem türkischen Psychologenverband eine provisorische Kinderbetreuung organisiert. In drei großen Zelten werden über 100 Kinder versorgt. „Wir versuchen, erst einmal Stress abzubauen“, erzählt die Psychologin Eda Kavur.„Die Kinder sind nervös, viele sind verstört und nässen ins Bett.“ Die Psychologen lassen sie in Gruppen über ihre Erlebnisse sprechen. „Alle Ängste müssen ausgesprochen werden“, beschreibt Kavur ihre Arbeit. „Ganz schwierig ist es mit den Kindern, die durch das Beben einen Elternteil oder Geschwister verloren haben. Sie müssten eine intensive Therapie machen, aber dazu haben wir hier keine Möglichkeiten.“

Die Attraktion des Tages ist ein neuer Haarschnitt. Aus Istanbul sind vier Friseure angereist, die jedem, der will, kostenlos die Haare schneiden. Erst als es dunkel wird, packen die „Berber“ ihr Werkzeug wieder zusammen und machen sich auf dem Heimweg. Auch die Psychologen sind als unbezahlte Freiwillige, immer nur für ein paar Tage hier. „Spätestens nach einer Woche kommt ein Kollege für mich“, beschreibt Eda Kavur ihre Situation.

Den schwierigsten Job hat Feridun Cimen. Er ist Sozialarbeiter und war stellvertretender Leiter des Waisenhauses in Düzce. Jetzt soll er Waisen betreuen, hat aber kein Haus mehr. „Wir bringen die Kinder in ein Heim nach Bolu“, erzählt Cimen, „wenn sich keine bessere Möglichkeit findet.“ Eine bessere Möglichkeit wäre die Unterbringung bei Verwandten, doch die meisten sind selbst von den Erdbeben betroffen. Das gilt auch für Feridun Cimen. Als im August die Erde das erste Mal die Türkei erschütterte, brach sein Haus in Düzce zusammen. Nur mit Mühe konnte er seinen 13 Jahre alten Sohn und sein 20 Monate altes Baby retten. Die Familie zog zu Verwandten in Düzce, deren Haus noch bewohnbar war. Am 12. November wurden sie dann erneut verschüttet, wieder konnten alle gerettet werden. Jetzt lebt seine Frau mit den beiden Kleinen in einem Zelt in Düzce und er kümmert sich in Kaynasli um andere Kinder. „Dabei brauchen meine Kinder mich selbst ebenfalls dringend. Sie können nachts nichts mehr schlafen und werden bei jedem Lärm panisch.“ Doch Feridun Cimen will seinen Job nicht verlieren und geht deshalb arbeiten. Eines der Zelte, in denen jetzt auch die Kinder von Mustafa spielen, hat er erst am Morgen aufgebaut.

Andere haben keine Wahl, für sie gibt es keinen Job mehr. „Ich hatte ein schönes Leben“, erzählt Oktay Tercan mit stockender Stimme, „jetzt habe ich nichts mehr“. Der 47-Jährige arbeitete in einer Essigfabrik in Adapazari, einem der Zentren des ersten Erdbebens. Die Fabrik gibt es nicht mehr. Er war 25 Jahre glücklich verheiratet, seine Frau starb unter den Trümmern ihres Hauses. Der Stolz der Familie war die Tochter. Sie hatte es geschafft, besuchte die Universität, war verlobt. Sie wurde von einer Betondecke erschlagen. Oktay Tercan konnte sich allein aus den Trümmern herausarbeiten, mehrere Rippen gebrochen und den Fuß schwer verletzt. Heute bereut er seine Anstrengung. „Ich wäre lieber auch gestorben.“ Er sitzt in einem der uralten, kaputten Zelte des Roten Halbmonds direkt an einer schmutzigen Straße und schaut auf die Geröllhalde, die einmal sein Haus war.

Während Leute aus seiner Nachbarschaft sich zusammentun und beginnen, auf ihren mittlerweile von Trümmern geräumten Grundstücken Holzhäuser in Eigenregie aufzustellen, ist Tercan unfähig, etwas zu unternehmen. „Ich weine und ich trinke, um meinen Kummer zu vergessen. Jeden Tag, seit drei Monaten.“

Wenige hundert Meter weiter sind die ersten Holzhütten bereits fertig. Ein Familienvater freut sich, dass sie am Abend noch aus dem Zelt in ihr Holzhaus umziehen können. In Adapazari hat der Staat auch Fertigbauhäuser aufstellen lassen, aber die eifrigen Häuslebauer wollen nicht dorthin. Das sei zu weit von der Stadt entfernt. „Wie soll man da Geld verdienen?“ fragt einer.

Für Adapazari gibt es bereits seit einem Beben Mitte der Sechzigerjahre konkrete Pläne, die Stadt an anderer Stelle, rund zehn Kilometer entfernt, neu aufzubauen, weil man weiß, dass der Untergrund extrem gefährlich ist. Es wurde sogar ein Gesetz zur Verlegung der Stadt erlassen, doch letztlich passierte nichts. Auch jetzt ist bereits absehbar, dass die Menschen allen bitteren Erfahrungen zum Trotz ihre Stadt wieder dort aufbauen werden, wo sie vorher stand. Im Moment ähneln die zerstörten Stadtviertel den so genannten gecekondulașma, über Nacht gebauten Slums von Leuten, die ohne Geld und ohne Beziehungen vom Dorf in die Stadt übergesiedelt sind. Mit der Zeit werden die Provisorien dann wieder stattlicher, aus den Hütten werden Häuser. Bis zum nächsten Beben.

Dieser Prozess ist auch nicht durch den Bau von Fertighaussiedlungen zu stoppen. Sie sind nicht nur weit von den Stadtzentren entfernt, sie strahlen auch die Atmosphäre eines Militärcamps aus. 5.000 Häuser sind es in der Nähe von Izmit, alle in Reih und Glied, nur durch die Nummerierung voneinander zu unterscheiden. Trotzdem haben sie im Vergleich zu den Zelten einen entscheidenden Vorteil: Sie sind warm und trocken. Ayșe Arslanhan und ihre Familie gehörten zu den Ersten, die in dem Lager ein Fertighaus bezogen haben. Ayșe hat im wahrsten Sinne des Wortes das große Los gezogen, denn unter den Bewerbern für eines der Häuser wurde sie ausgelost. Ein paar Möbelstücke, die sie aus den Trümmern ihrer Wohnung retten konnte, zieren jetzt den Wohncontainer. Für ein Jahr sollen sie darin bleiben dürfen, bis dahin müssen sie eine neue Wohnung gefunden haben.

Mustafa hat sich nach zwei durchwachten Nächten von seinen Kollegen in Düzce verabschiedet und ist zu seiner Familie im Zelt in Kaynasli zurückgekehrt. Er wartet nicht auf die Fertigbauhäuser, sondern will mit Hilfe der Nachbarn bald ein Holzhaus fertig haben. Nicht irgendwo weit entfernt, sondern da, wo sein Haus vorher auch stand. Auch die Angst vor einem neuen Beben kann ihn nicht davon abhalten, denn: „Ich will nirgendwo anders hin. Schließlich bin ich hier zu Hause.“