: Keine Ahnung, niemand
Aber reichlich Tee: Mit dem Zug von München nach Berlin in 18 Stunden
Und dann, nach nur zwanzig Minuten Fahrt, gegen 14.15 Uhr, ist der IC 522 plötzlich stehen geblieben. Sofort hatte der Zugführer wichtige Informationen parat: „Guten Tag, verehrte Fahrgäste, unser Zug hat gerade außerplanmäßig gestoppt. Bitte steigen Sie nicht aus.“ Sturmschäden, die Feuerwehr sei im Einsatz.
In diesem Moment hörte die Zeit auf, eine ernst zu nehmende oder wahrnehmbare Größe zu sein. „Kurz vor Augsburg“, raunte man auf dem Gang, seien wir gestrandet. Was ist schon Augsburg angesichts einer weiteren Reise nach Berlin? Wann hat man schon mal die Muße, ein Zeit-Dossier von vorne bis hinten durchzulesen? Hätte man den Mini-Fernseher doch mitnehmen sollen? Ab und an meldete sich der Zugführer, Hoffnung raubend: „... folgende Durchsage: Wir wissen immer noch nicht, wann es weiter geht.“
Gegen 17 Uhr ging das Licht aus. Keine Durchsagen mehr. Gespenstische Stille legte sich über den Schicksalszug. Im Nebenabteil plapperte eine alte Frau von den Gefahren des plötzlichen Blitzschlages und von Banden, die schutzlose Sturmopfer ausrauben. Kinder weinten.
Gegen 18 Uhr verteilten Bahnangestellte so genannte „Pünktlichkeitsgutscheine“ im Wert von 50 Mark. Unangenehmen Fragen begegneten sie offensiv – bevor Beschwerden kamen, jammerten sie selbst am lautesten: „Wann wir heute wohl heimkommen?“ Und wie ich nach Berlin komme? Tja. Keine Ahnung, niemand. Gegen 19 Uhr verteilten die Bahnangestellten heißen Tee. In Kürze werde ein Zug auf dem Gegengleis erscheinen und uns zurück nach München bringen. Reisende packten ihre Sachen.
Gegen 21 Uhr kam das Rote Kreuz in Gestalt seiner Ortsgruppe Augsburg-Hochzoll: Sichtlich erfreut, mal einen echten Notfall live mitzuerleben, verteilten Teenager Tee und Plätzchen. Und Tee. Und noch mal Tee. „Wollen Sie Tee?“ – „Danke, ich habe noch.“ – „Können wir noch mal auffüllen?“
Gegen 22.30 Uhr waren alle wieder in München. Gegen 23 Uhr ging ein Sonderzug nach Berlin. Störungsfrei. Ankunft 8.30 Uhr. 18 Stunden nach Abfahrt.
Stefan Kuzmany
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