Nenn den Atlantik niemals Lutscher

Weihnachtliche Abenteuer in Lissabon, Teil 4 (und Schluss)

Eine freundliche Seezunge im Bauch, stiefelten wir retour. Nun galt es, dem Tag mit einer Portion Aguardiente eine letzte Rundung zu geben. Dazu wurde eine Nachtkaschemme aufgesucht, die erlesene Tristesse ebenso bot wie Getränke zu ihrer Betäubung. Ruhig und stickum saßen wir an einem Tisch, jemand klimperte auf einer nur noch dreisaitigen Gitarre, die Welt schimmerte matt in einem leicht schäbigen Glanz, was ihr ausgezeichnet stand. Doch hatten wir nicht mit Dr. Fado gerechnet, einem jungen Mann aus Köln, der plötzlich wie aus dem Nichts auftauchte. Seine bürgerliche Existenz unter dem Namen Björn Blaschke hatte er für einige Zeit an den Nagel gehängt. Jetzt stand er tatendurstig im nächtlichen Lissabon.

Zunächst aber machte er den ganz regulären Durst nieder. Wie bei allen Menschen, die zu lange in Köln gelebt haben, wurden auch bei ihm die entsprechenden Vorgänge mit Anfällen von Fröhlichkeit flankiert. Bezechte Fröhlichkeit aber ist unportugiesisch; hier ist die Fähigkeit zur Schwermut gefragt, Saudade, Fado, der sehnsüchtige Blick auf einen fernen, unerreichbaren Punkt. Herr Blaschke, trotz seiner Jugend ein einfühlsamer Mann, erwies sich als flexibel und legte den Kippschalter um. „Quiero cantar um Fado!“, jaulte er unvermittelt los – und hatte mit dieser hoch authentisch klingenden Fantasiesprache aus Spanisch und Portugiesisch seltsamerweise Erfolg.

Ein älterer Mann, der bis dahin vorbildlich stoisch und still große Portionen starken Getränks in sich hineingefüllt hatte, näherte sich unserem Tisch und begann zu sprechen. Das war keine gute Idee. „Fado?“, kam es heiser aus seiner Kehle; Herr Blaschke aber fühlte sich gepinselt und stimmte abermals seinen Gesang an: „Quiero cantar um Fado!“ Damit hatte er den Portugiesen entfesselt. Allerlei Zischlaute kamen aus seinem Mund, ein zusammenhängender Text war ebenso wenig zu ermitteln wie eine Melodie. Es klang schauderhaft. Der Wirt griff ein und wollte den Sänger stoppen; der aber verwies mit Recht darauf, er sei von Herrn Blaschkao um einen Fado gebeten worden. Ob das wahr sei, fragte der Wirt drohend; wir alle schüttelten ebenso heftig wie heuchlerisch die Köpfe, zahlten und verließen die Stadt.

Die Flucht gelang; Herr Blaschke wurde zur Buße zum Fahrwart bestimmt. Während die Portugiesen um uns herum auf Fußgängerjagd gingen, wurde Herr Blaschke zu permanenter Bremsbereitschaft verurteilt und hatte zu fahren wie ein Mann mit Hut. Er tat dies ohne Murren, doch als er wegen seiner ihm aufgezwungenen Fahrweise als „Opa“ beziehungsweise „Opa Strolchi“ verspottet wurde, traf ihn das tief.

Wie tief, erfuhren wir erst am Atlantik. Kaum standen wir vor den Wellen, packte der frühere Student der Islamwissenschaften seinen Fundus an Schimpfwörtern aus. „Lutscher!“ und „Schwuchtel!“ ging das los, der Atlantik wurde als „Badewanne!“ und als „Weichei!“ verhöhnt, als „Ungewaschener Eselspimmel!“, als „Badewanne!“ und, tödlich, als „Mittelmeer!“. Das fand der Atlantik gar nicht komisch. Unter den Augen einiger Dutzend geriatrischer Briten, die kühl und distanziert Wetten auf unsere Überlebenschancen setzten, sprangen wir in den Atlantik.

Der schickte uns Wellen wie Shatterhandsche Jagdhiebe, trat uns die Beine weg, ließ uns Salzwasser schlucken und prügelte uns windelweich; erst nachdem Herr Blaschke jede Beleidigung einzeln und ausdrücklich widerrufen hatte und wir gelobten, zur Buße Bacalhau zu essen, spie uns der blaue Bruder, wie wir ihn jetzt respektvoll nannten, blutend, zerschunden und halb ertrunken an Land. Wir aber mümmelten noch am selben Abend Bacalhau, den Stockfisch, mit dem das Meer all jene bestraft, die es nicht achten.Wiglaf Droste