Schlagloch
: Stehen bleiben geht nicht

Von Nadja Klinger

Man muss Schubladen öffnen und hineinlegen, woran man nicht tragen kann“

„Stellen Sie sich vor, es ist der 1. Januar der ‚neuen Zeit‘, und alles geht weiter wie bisher.“

Freitag 52/1999, 24. 12.

Was soll man sagen. Niemand erwartet etwas. Niemand hält überhaupt erst an. Alle gehen.

Die Menschen, so sagen die Zeitungen, bewegen sich unweigerlich auf Silvester zu. Keiner, so sagen die Journalisten, nachdem sie abends die Redaktionen verlassen haben, kennt einen, der mit dem neuen Jahrtausend tatsächlich etwas am Hut hat. Warum? Weil ein Jahrtausend undenkbar ist? Weil man nicht weiß, was kommt, und auch nicht so genau, was gewesen ist? Jedenfalls ist die Wirklichkeit nicht nur das, was wir wahrnehmen.

Im Sommer habe ich mir sechs beschriebene Seiten in die Tasche gesteckt. Es handelte sich um einen Vortrag, den Robert in Brasilien gehalten hat. Brasilien. Ich war noch nie dort und kann mir auch nicht vorstellen, wie es ist. Roberts Rede drehte sich um Brecht. Brecht. Den mag ich nicht leiden. Noch bevor der Vortrag zwischen meinen Utensilien verschwand, registrierte ich, dass ich schon die ersten Sätze nicht kapierte.

Aber Robert ist dreiundzwanzig Jahre älter als ich. Er ist durch die Welt gekommen und sitzt tagein, tagaus über den Dächern von New York und denkt. Er ist ein besonderer Mensch. Was er erzählt, wird von ihm mit einem Lächeln bedacht. So strahlen die Angelegenheiten, von denen er berichtet, etwas aus, was nur Dinge an sich haben, derer man sich bewusst ist. Dinge, die man gesehen hat. Die einem keine Angst machen, weil man weiß, dass es sie gibt.

Wir haben uns eine Zeit lang regelmäßig getroffen, Robert und ich. Er kaufte Kaffee und Kuchen, dennoch habe ich weder getrunken noch gegessen, um mich voll auf ihn einzulassen. Weil ich weiß, dass, wer gut erzählen, einem die Welt verändern kann. Wenn ich später nach Hause ging, habe ich Dinge gesehen, die es nicht gab.

Mir fällt auch niemand ein, der mit dem neuen Jahrtausend etwas am Hut hat. Ich kenne Leute, die zur Lichtshow gehen, egal, wie sie nun aussieht und ob sie an der Siegessäule stattfindet oder nicht. Ich kenne andere, die gegen dieses Spektakel sind. Wenn sie abends aus den Redaktionen kommen, sagen diese Leute: Das Für und Wider in unseren Zeitungen ist ein Medienspiel. Kann sein. Möglicherweise ist es auch ein kleiner Kalter Krieg der Argumente. Der letzte Feldzug, der in Berlin für dieses Jahrtausend noch geschlagen werden kann. Im Namen all dessen, was nicht offensichtlich ist. Sonst ist 2000 und alles geht weiter wie bisher.

Jetzt, wenige Tage vor Silvester, habe ich den Vortrag gelesen, den Robert einst in Brasilien gehalten hat. Wie konnte es geschehen, dass ein Denker wie Brecht nie ein Wort über Auschwitz verloren hat, wollte er von den Brasilianern wissen. Als ob gerade die ihm da weiterhelfen könnten. Robert schwärmte von Rio de Janeiro, der Stadt, die offensichtlich ein glitzerndes Wunder ist. In Wahrheit aber, erzählte er, ist sie auf Kosten der Armen gebaut. Wenn man das überhaupt so sagen kann. Wenn man das überhaupt so sehen kann. Was sind wir in der Lage zu sehen, fragt Robert. Welche fürchterlichen Ereignisse, die gerade stattfinden, erkennen wir nicht?

Es gibt Augenblicke wie den Jahrtausendwechsel, da beschleicht einen das Gefühl, stehen bleiben zu müssen. Aber Stehen bleiben ist dasselbe wie aufhören zu atmen. Es kann nicht dauern.

Als ich das letzte Mal mit dem Atmen innegehalten habe, saß ich in einem großen kahlen Zimmer im Haus des Deutschen Literaturvereins in New York. Der Verein besteht seit 1905. Schriftsteller, Professoren, Literaturfreunde, die von Deutschland nach Amerika kamen, wollten nicht vergessen, wo sie her waren. 1905 muss es wohl auch gewesen sein, dass sie den langen Holztisch aufgestellt hatten, an dessen Stirnseite ich nun saß, jedenfalls sah der Tisch so aus. Und auch die Mitglieder waren mit dem Verein gealtert. Die Zeit war fortgeschritten – in dem kahlen Raum über der Fifth Avenue jedoch stehen geblieben.

Der Fahrstuhl rasselte und kippte alte Herrschaften aus, die sich unter dem matten Licht der Deckenlampe zu einer Traube von Zuhörern zusammenhockten. Ich las ihnen eine Geschichte vor, die vom Älterwerden handelte, von der Last der Erinnerung sowie der Sehnsucht, mit einer gewissen Leichtigkeit zu sterben. Mitunter seufzte jemand, oder ein Kopf kippte gedankenverloren. Es war ein glanzloser Moment. Ein stilles Spektakel. Aber ich kann sagen, dass es vielleicht mein Jahrtausenderlebnis war.

Nachdem ich mit dem Lesen geendet hatte, war es still. Dann seufzte plötzlich ein Mann. „Man muss Schubladen öffnen und hineinlegen, woran man nicht tragen kann“, sagte er. Seine Frau nickte. „Man muss versuchen zu vergessen“, fügte der Mann hinzu. Jemand anderes sagte etwas Ähnliches, irgendwer stimmte zu. Da die Herrschaften sich miteinander unterhielten, entschuldigte ich mich und ging zur Toilette.

Stille lag im Raum, ich war weit weg, aber nicht wirklich, denn das ist unmöglich

Toiletten sind Orte, die das Geschehen ausblenden. Es wechselt die Stimmung und der Ton. Es wechselt der Blick. Aus dem Spiegel sah mich ein Gesicht an, das mich stumm fragte, was ich hier zu suchen hatte. Ich wusste es nicht.

Als ich in den kahlen Raum zurückkam, hatte das matte Licht sich plötzlich verändert. „Ich wusste doch nicht, dass die alle vergast werden!“, rief ein Mann. Ich kannte keinen Juden. Natürlich hatten wir einen Volksempfänger! Aber da klebte ja auch der Zettel: Wer den Engländer hört – Kopf ab!“ Aus der Verständigung war ein Gefecht geworden. „Wen sollten wir denn wählen?“, fragte jemand. „Außer Hitler war doch da keiner!“ – „Ich glaube nicht, dass man bei Einzelnen von Schuld sprechen kann“, meinte eine Frau. „Das hat Adenauer anders gesagt“, erwiderte eine andere, „deshalb zahlen wir ja an die Juden.“ Die alten Leute kämpften. Jeder gegen sich selbst. „Das macht sie auch nicht wieder lebendig“, erklärte ein Mann.

Ohne zu wissen, was ich hier suchte, hatte ich es schon gefunden. Ich sah aus dem Fenster und bemerkte, wie sich rotgelbe Bäume unter dem Herbststürmen bogen. Bald würden sie ihre Blätter verlieren. ... „Die DDR war auch nicht besser, da haben sie jeden, der nicht Kommunist war, an die Wand gestellt“, sprach jemand. ... Das Jahr ging zu Ende, aber der Central Park war zum Glück nicht Berlin. „Na, wenigstens haben sie niemanden vergast“, erwiderte man. ... In den kommenden Wochen sollten Tausende aus der ganzen Welt nach New York reisen, um hier den Jahreswechsel zu begehen. Ein Furcht erregender Gedanke, aber der Times Square war wenigstens nicht die Siegessäule. ... „Viel schlimmer“, brüllte es, „die Ostdeutschen haben die Leute lebendig begraben!“ ... Und die Zeitungen, die die Silvesterfeier bejubelten und den New Yorkern gleichzeitig rieten, lieber aus der Stadt zu fliehen, waren immerhin keine deutschen Blätter.

Alle sahen mich an. Aus trüben Deckenlampen wurden Scheinwerfer. Ich blinzelte ins Licht. Gewissheit ist nicht nur das, was man wahrnehmen kann. Stille lag im Raum, ich war weit weg, aber nicht wirklich, denn das ist unmöglich. So unmöglich wie stehen bleiben. Die Menschen bewegen sich unweigerlich auf Silvester zu. „Irgendwann denkst du dann, da ist gar nichts gewesen“, sagte der Mann, der sein Leben, wie wir alle, in Schubfächer gelegt hatte.